Polizeihunde beim Istanbul Pride 2018
Polizeihunde beim Istanbul Pride 2018 © AFP/Getty Images

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Es gab keinen Halt in diesem Moment. Nicht einmal die Hunderte von Polizisten, schwer bewaffnet mit Hunden, Tränengas und Gummigeschossen, konnten das verhindern. Am vergangenen Sonntag haben in der Türkei die LGBTI-Gemeinschaft und ihre Freund_innen bewiesen, dass in Istanbul Liebe und Solidarität viel stärker sind als Einschüchterung und Angst.

Amnesty International – Blog

Von Lene Christensen, Amnesty International

Eine Stunde lang bot die Mis Straße einen kleinen Vorgeschmack auf das, was der Istanbul Pride einmal war - eine blühende Veranstaltung, die Zehntausende Teilnehmende in Regenbogenfarben anzog. Der diesjährige Pride wurde zum vierten Mal in Folge verboten, aber buchstäblich in letzter Minute am Sonntag und als Ergebnis einiger sehr geschickter Verhandlungen mit der Polizei wurde den Organisator_innen gesagt, sie könnten sich in dieser winzigen Seitenstraße an der Istiklalstraße, der großen Fußgängerallee, versammeln, wo sie jahrelang ohne Probleme in den Vorjahren demonstriert hatten.

Innerhalb weniger Minuten hatten sich ein paar hundert Leute auf der Mis Straße versammelt, tanzend und singend. Madonna tönte aus den Lautsprechern. Strahlendes Lächeln und weinende Augen waren überall zu sehen. Eine große Regenbogenfahne wurde in der Mitte der Menge gehisst. Für einen Moment war es pure, unerwartete Magie. Aber wir befürchteten, dass der Bann bald gebrochen würde.

Die Atmosphäre war sowohl fröhlich als auch einschüchternd: Jeder wusste, dass sich die Versammlung jede Minute von einer Feier in eine Falle verwandeln konnte.
Die Polizei blockierte beide Enden der Straße. Wir waren von Uniformen und Waffen umgeben. Und die LGBTI-Gemeinde in Istanbul weiß aus bitterer Erfahrung, dass die Tränengas- und Gummigeschosse nicht nur eine leere Drohung waren. Sie waren in den letzten drei Jahren stark genutzt worden.

"Es war wie das Feiern von Stolz in einem Käfig", erzählte mir Yuri Guaiana danach, als wir über das Erlebnis sprachen. Er ist Senior Kampagnen Manager für die globale LGBTI Vereinigung "All Out" und war wie ich da, um Solidarität zu zeigen und die Veranstaltung zu dokumentieren.

In den Stunden vor dem Pride sahen wir alle, wie sich die Polizei neben ihren gepanzerten Fahrzeugen auf dem Taksim-Platz und an Punkten entlang der geplanten Demonstration aufstellte. Es war eine surreale Erfahrung, sich auf eine verbotene Feier von Gleichheit, Vielfalt und Liebe zuzubewegen, als sich die schwer bewaffnete Polizei an einem sonst normalen Sonntagnachmittag mit den Einkaufenden vermischte.

Der lokale LGBTI-Aktivist Cihangir (27) war auf das Schlimmste vorbereitet, als wir mit ihm in einem ruhigen Café an diesem Tag sprachen. Er erzählte uns, wie er befürchtete, dass sein bereits verletzter Arm weiter verletzt werden könnte, wenn die Polizei Gewalt anwendet oder ihn festhält.

Im April veröffentlichte Amnesty International einen Bericht über das Klima der Angst in der Türkei, in dem Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen nie wissen, ob sie die nächsten sind, die von der Regierung angegriffen werden. Seit November letzten Jahres sind alle LGBTI-Veranstaltungen in der türkischen Hauptstadt Ankara im Rahmen des Ausnahmezustands verboten. Letzte Woche wurde sogar eine Vorführung des gefeierten britischen Films 'Pride' von den Behörden verboten. Mehrere LGBTI Organisationen mussten ihre Sichtbarkeit drastisch reduzieren, und die Leute sagten uns, dass sie sich nach Jahren, in denen eine landesweite Bewegung in der Türkei aufgebaut worden war, wieder in den Untergrund gedrängt fühlen.

Cihangir sagte, dass es beim diesjährigen Pride nicht nur um die LGBTI-Gemeinschaft gehe, sondern um einen Ausdruck der Solidarität für alle marginalisierten Gruppen, die derzeit in der Türkei unter Druck stehen.

"Ich glaube, das wird sich ändern", sagte er; entschlossen, ein Teil des Kampfes für Gleichberechtigung und Freiheit zu sein. "Ich komme mir vor wie kleine Kätzchen", fuhr er fort und bezog sich auf die LGBTI Gemeinschaft. "Wir werden nicht auf die Straße zurückgelassen."

Später, in der Mis Street, sah ich Cihangir. Er tanzte mitten in der Menge. Aber nach einer Stunde sagte mein Kollege Andrew Gardner plötzlich der Delegation von Amnesty International, sie solle mit ihm kommen. Schnell. Er hatte gehört, dass die Polizei die Leute nicht von der Straße ließ, und wir wollten kein Risiko eingehen. "Lass uns gehen", sagte er. Wir ließen die Regenbögen hinter uns und gingen an Polizeihunden vorbei, in der Hoffnung, dass sie uns nicht aufhalten würden.

Wir waren dort, um Liebe und Vielfalt in Aktion zu beobachten.

Wir fühlten, dass wir uns verstecken mussten.

Als wir die Istiklal Straße entlang gingen, konnten wir sehen, wie die Polizeipräsenz dramatisch zugenommen hatte. Fast jede Seitenstraße wurde nun von Polizei und Polizeiwagen blockiert. Nachdem wir gegangen waren, erfuhren wir, dass das Pride-Organisationskomitee an mehreren anderen Orten in den Nebenstraßen nahe dem Taksim-Platz Presseerklärungen verlesen hatte, wie sie es in der Mis-Straße getan hatten. Mutige Teilnehmende hatten sich weiter versammelt, obwohl die Polizei sie immer wieder verfolgte.
Ich fragte Andrew, was er von der Veranstaltung hält: "Der Sinn des Protestes ist, dass er sichtbar ist. Leute in einer Seitenstraße abzuschotten, versteckt vor aller Augen, respektiert nicht das Recht zu protestieren", sagte er.

Als Yuri aus der Mis Straße kam, sagte er mir, dass er eine endlose Reihe von Polizisten auf ihn zukommen sah, die meisten mit Polizeihunden. Es war ein schrecklicher Anblick.
"Zu sehen, dass so viele Polizisten und Fahrzeuge für einen kleinen Haufen Leute auf der Straße zappeln ...", sagte er kopfschüttelnd, unfähig seinen Satz zu vollenden.

Um keinen Zweifel zu lassen: An diesem Sonntag wurde Tränengas abgefeuert. Wir hörten von Menschen, die von Polizeihunden zu Boden geworfen wurden. 11 Personen wurden festgenommen, aber am Abend wieder freigelassen. Dennoch wird keiner von uns, der an diesem Sonntag in der Mis Straße anwesend war, diese kostbaren Augenblicke der Freude und des starken Zusammengehörigkeitsgefühls und des Stolzes vergessen. Wieder einmal konnten sich die Menschen am helllichten Tag, wenn auch nur für eine Stunde, öffentlich äußern.

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