Die Attacken lösten eine Atmosphäre des Terrors unter denjenigen aus, die sich als potenzielle Opfer sehen. Am 8. März, 2012, wies das Innenministerium in einer offiziellen Bekanntgebung die Berichte lokaler Aktivisten und Medien über eine Kampagne gegen solche, die als Emo gesehen werden, zurück. Das Ministerium äußerte, dass diese Berichte „fabriziert“ und „gegenstandslos“ seien und dass es gegen diejenigen vorgehen würde die „diese Angelegenheit beleuchtet und unverhältnismäßig ausgebaut“ hätten. Eine offizielle Ministeriumsmitteilung vom 13. Februar, welche die Emokultur als „satanisch’ bezeichnete, lässt die Bereitschaft der Regierung, gefährdete junge Menschen zu schützen, zweifelhaft erscheinen, sagten die internationalen Menschenrechtsgruppen.
„Die Regierung hat zur Atmosphäre von Angst und Panik beigetragen, die durch Gewalttaten gegen Emos gefördert wurde“ sagte Joe Stork, stellvertretender Geschäftsleiter für den mittleren Osten bei Human Rights Watch. „Anstatt zu behaupten, dass die Meldungen fabriziert seien, müssen irakische Behörden eine transparente und unabhängige Untersuchung anordnen um sich mit dieser Krise zu befassen.“
Die Opfer der Kampagne scheinen einen Querschnitt der Leute zu repräsentieren, die vor Ort als Nonkonformisten gesehen werden. Dazu gehören Menschen, die der Homosexualität verdächtigt werden, aber auch Menschen mit markanten Frisuren, Kleidung oder Musikgeschmack. Auf Englisch ist „emo“ die Kurzform von „emotional“ und bezieht sich auf selbstidentifizierte Jugendliche und junge Erwachsene die alternative Rock-Musik hören, oft schwarze eng anliegende Kleidung tragen, und ihre Haare auf unkonventionelle Art und Weise tragen. Menschen, die als schwul, lesbisch, transgender oder feminin (im Fall von Männern) wahrgenommen werden, sind besonders gefährdet.
Irakische Menschenrechtsverteidiger_innen meldeten den drei Organisationen, dass Anfang Februar Schilder und Flyer in den Baghdader Nachbarschaften Sadr City, al-Hababiya und Hay al-‘Amal erschienen sind, die Menschen beim Namen nannten und mit „Gottes Zorn“ drohten, es sei denn sie schneiden ihre Haare kurz, tragen nicht mehr ihre sogenannten „satanischen Kleidungs“-Stile, welche die Kritiker mit Emos, Metal-Musik und Rap verbinden, verbergen ihre Tätowierungen und „erhalten vollkommene Männlichkeit aufrecht.“ Weitere Namen erschienen auf ähnlichen Postern in anderen Nachbarschaften.
Ein solches Schild, von internationalen Menschenrechtsgruppen beobachtet, wurde auf einer Mauer in Sadr City angebracht, worauf stand „Im Namen Gottes, des erbarmungsvollen, des gnädigen, warnen wir jeden Mann und jede Frau auf ausdrücklichste Weise ihre schmutzigen Taten in vier Tagen abzubrechen, bevor Gottes Zorn sie durch die Hand der Mujahedin trifft.“ Dieses Poster zählte 33 Namen auf und war mit Abbildungen von zwei Handfeuerwaffen verziert.
Seit Februar haben die drei internationalen Menschenrechtsgruppen Informationen von lokalen Menschenrechtsgruppen, Gemeinschaftsaktivist_innen und Medien über zahlreiche Tode von jungen Menschen erhalten. Einige lokale Medien schätzen die Anzahl der Toten sogar in Höhe von mehreren Dutzend. Die internationalen Menschenrechtsgruppen konnten noch nicht bestätigen, dass Menschen als Teil einer organisierten Kampagne getötet wurden.
Ein 26-jähriger Mann aus Mosul berichtete Menschenrechtsgruppen, dass am 8. März unbekannte Angreifer zwei Mitglieder seiner Heavy Metal-Band wegen ihres Aussehens töteten. „Wir wissen nicht, wer jetzt dahinter steckt, aber Leute haben uns schon lange beschuldigt, Satanisten zu sein. Das ist nicht neu, aber jetzt hat es zu einem Mord geführt“ sagte er.
Obwohl es unklar ist, wer für diese Angriffe und Einschüchterungen zuständig ist, treiben die irakischen Medien die Kampagne an, indem sie das sogenannte „entstehende Emo-Phänomen“ als Satanisten, Vampire, unmoralisch und un-islamisch bezeichnen, so die Gruppen. Einige Geistliche und Politiker haben auch zur Dämonisierung der Emo Jugend beigetragen. Am 10. März, bezeichnete der Shia Geistliche Muqtada al-Sadr in einer Online-Mitteilung Emos als „verrückte Narre“ und als eine „Wunde auf der muslimischen Gesellschaft,“ sagte aber auch, dass man sich „innerhalb des Gesetzes“ mit ihnen auseinandersetzen sollte. Dokumente die die internationalen Menschenrechtsgruppen erhielten, zeigen, dass das Bildungsministerium im August 2011 eine Notiz zirkulierte, welche Schulen empfahl, die Verbreitung der Emo-Kultur, das sie als „infiltrierendes Phänomen in unserer Gesellschaft“ bezeichneten, einzudämmen.
Die Erklärung vom 13. Februar des Innenministeriums auf seiner Website, bezeichnete Emos als „Satanisten“, die eine Gefahr für die irakische Gesellschaft darstellen. Die Erklärung zeigte auch, dass das Ministerium Zuspruch vom Bildungsministerium für einen „integrierten Plan welches der Polizei erlaubt alle Schulen in der Hauptstadt zu betreten“ suchte. Am 29. Februar gab das Innenministerium eine weitere Erklärung heraus, indem es eine Kampagne gegen Emo-Kultur in Baghdad, insb. in der Khadimiya Nachbarschaft, bekannt gab, wo sie ein Geschäft identifizierten das „emo Kleidung und Accessoires“ verkaufte.
Nach weit verbreiteter Berichterstattung in den Medien über die Gewalt und Einschüchterung gegen Emos, milderte das Innenministerium seine Aussagen in der Erklärung vom 8. März, in der es „radikale und extremistische Gruppen, die versuchen als Beschützer der Moralität und religiösen Traditionen zu agieren“ vor „Handlungen gegen Menschen auf Basis von Mode, Kleidung oder Frisur“ warnt. Das Ministerium bestritt, dass Emos getötet wurden und drohte „notwendige rechtliche Maßnahmen gegen diejenigen die diese Angelegenheit beleuchten und unverhältnismäßig ausbauen wollen.“
Am 14. März inhaftierten Sicherheitskräfte in Baghdad drei Stunden lang das Kamerateam des arabischen Kanals Rusiya al-Yaum von Russia Today, als sie versuchten, ein Segment in Bezug auf die Angriffe auf Emos zu filmen. Sicherheitskräfte konfiszierten ihr Filmmaterial, obwohl der Kanal die Erlaubnisse hatte, in der Innenstadt Baghdads zu filmen.
Eine Reportage von Al-Sharqiya TV am 7. März berichtete, dass Männer in ziviler Kleidung in der Öffentlichkeit in al-Mansour zwei junge Frauen aufgrund ihrer „modischen Kleidung“ brutal zusammengeschlagen haben.
Menschen die als schwul, lesbisch, transgender oder feminine Männer wahrgenommen werden, berichteten Menschenrechtsgruppen, dass sie sich besonders bedroht fühlen. 2009 dokumentierten Amnesty International, Human Rights Watch und IGLHRC eine Reihe von Folter und Morde durch irakische Milizen gegen Männer die gleichgeschlechtlicher Handlungen verdächtigt wurden oder als nicht „männlich“ genug gesehen wurden. Irakische Behörden taten nichts,um diese Morde zu stoppen. Iraker die als schwul, lesbisch oder transgender wahrgenommen werden, leben wegen dieser Verbrechen, die als Teil der 2009 Kampagne ausgeführt wurden, in Angst. Viele Mitglieder dieser Community sind in den Untergrund abgetaucht.
Ein 22-jaehriger schwuler Mann in Baghdad berichtete internationalen Menschenrechtsgruppen, dass anonyme Anrufer am 11. März auf seinem Telefon Morddrohungen aussprachen. Die Anrufer beschrieben einen seiner Freunde, den sie Tage zuvor entführt und brutal zusammengeschlagen hatten, und sagten, dass sie so seine Nummer bekommen hätten. Sie sagten ihm, dass er als nächstes dran sei. Seitdem hat er seine Haare geschnitten und verlässt sein Haus nicht, aus Angst Angriffsfläche für Gewalt zu sein.
„Als die Nachrichten über Emos verbreitet wurden, stiegen Drohungen und Gewalt gegen schwule“ sagte er. „Sie gruppieren uns alle zusammen, jeden der auf irgendeine Art und Weise anders ist, und wir sind sehr leichte Ziele.“
Am 15. März berichtete das Iraqi Refugee Assistance Project, eine gemeinnützige Organisation, die für Iraker, die ernsthaft von Verfolgung bedroht werden, rechtliche Beratung und sichere Überfahrt bereitstellt, Human Rights Watch, dass sie in der vergangenen Woche Interviews mit 23 jungen Irakern durchgeführt haben, von denen sich die meisten die Haare kurz geschnitten hatten und untergetaucht sind, nachdem sie Morddrohungen erhalten und belästigt worden waren, weil sie als Mitglieder der emo oder LGBT Community wahrgenommen wurden. Die Befragten berichteten auch, dass 10 weitere, die als Mitglieder dieser Gruppen wahrgenommen wurden, seit Mitte Februar getötet wurden.
„Die Untätigkeit des irakischen Innenministeriums und Leugnung der laufenden Kampagne, um Menschen zu bestrafen, die als Nonkonformisten gesehen werden, bedroht jeden der anders ist, auch die, die traditionelle Auffassungen von Geschlecht und Sexualität herausfordern,“ sagt Jessica Stern, Programmdirektorin bei IGLHRC. „Die Regierung muss die Sicherheit aller Iraker gewährleisten, nicht die Gefährdungen gegen die Bedrohten verstärken.“
Im Gegensatz zu den Morden im Jahr 2009 hat die gegenwärtige Kampagne eine starke Verurteilung innerhalb des Iraks hervorgerufen. Eine Erklärung von Ayatollah Ali Sistani, einem führenden Shia Anführer, der die gezielten Morde von Emo-Jugendlichen in Irak als eine Bedrohung für den nationalen Frieden und Ordnung bezeichnete, war eine positive Entwicklung, sagten die Gruppen. Laut Ayatollah Sistanis Verterter in Baghdad, Shaikh Abd al-Rahim al-Rikabi, „sind diese gezielten Morde terroristische Taten.“
Am 8. März forderten mehrere Mitglieder des irakischen Parlaments eine polizeiliche Untersuchung der Morde und verurteilten eindeutig die Gewaltakte. Der parlamentarische Sprecher (parliament speaker), Usama Najaifi, sagte in der Erklärung vom 13. März, dass das „Phänomen der Attentate auf manche jungen Leute – diejenigen, die als Emo beschrieben werden – durch einige Gruppen im Namen der Gesellschaftsreform“ eine „Kultur der Gewalt und des Terrors ... und einen Gesetzesverstoß und Kriminalität fördert.“ „Im besten Fall ist die Reaktion des irakischen Innenministeriums vollkommen unangemessen, im schlimmsten Fall duldet es Gewalt gegen die Emo-Jugend,“ sagt Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretender Geschäftsleiter für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty International. „Irakische Behörden sollten eindeutig die Angriffe verurteilen, Morde untersuchen und jeden schützen, der gefährdet ist.“
Für weitere Informationen, kontaktieren Sie bitte:
Amnesty International:
Said Boumedouha ist für Interviews auf Englisch oder Arabisch verfügbar:
+44 (0) 20 7413 5566 oder press(at)amnesty.org
Human Rights Watch:
In Beirut, Rasha Moumneh (Englisch, Arabisch):
+961-71-323484 (mobil); oder moumner@hrw.org
In Toronto, Samer Muscati (Englisch): +1-647-977-4543; oder muscats@hrw.org
In Washington DC, Joe Stork (Englisch): +1-202-612-4327; oder +1-202-299-4925 (mobil); oder storkj@hrw.org
In Amsterdam, Boris Dittrich (Deutsch, Englisch, Holländisch): +1-917-535-3863 (mobile); oder dittrib@hrw.org
International Gay and Lesbian Human Rights Commission:
In New York, Jessica Stern (Englisch): +1 917 355 3262; oder jstern@iglhrc.org
AI Index: PRE01/141/2012