Die Moskauer Polizei nimmt während des Moskau-Pride 2012 etwa 40 Menschen fest.
Die Moskauer Polizei ca. 40 Leute fest die vor dem Büro des Bürgermeisters versuchten, eine Pride-Veranstaltung durchzuführen © Amnesty International

Meldungen | Russland : Homophobie wird quasi legalisiert

Besorgniserregendes hörte man in den letzten Monaten aus Russland. Wie ist die Situation für LGBTI aktuell? Queeramnesty fragte nach bei Wanja Kilber, Aktivist von Quarteera e.V., einem Verein russischer Queers in Deutschland.

Wanja war im Rahmen der Pride Week beim diesjährigen Hamburger CSD Gast einer Podiumsdiskussion zum Thema „Zwischen Verfolgung und Selbstbestimmung – Die Menschenrechtssituation von LGBTI weltweit“, die u.a. von Queeramnesty Hamburg präsentiert wurde.

Ist Russland auf dem Weg in eine Diktatur?

Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg in die Diktatur war in Deutschland damals das Verbot von Vereinen. So weit ist es in Russland noch nicht, aber man schränkt die Vereinsrechte enorm ein. Finanzielle Unterstützung aus dem Ausland kann zwar weiter bezogen werden, man muss sich aber als „ausländischer Agent“ registrieren lassen und sich einem gesonderten Berichts- und Kontrollsystem unterwerfen.i Das sind sehr Besorgnis erregende Zeichen. Andererseits entwickelt sich auch gerade eine starke Protestbewegung.

Dann kann man der ernsten Situation auch etwas Positives abgewinnen?

Eine Protestbewusstsein hatte Russland bisher nicht. Das hat es nicht gelernt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die demokratischen Strukturen unterentwickelt und wurden zudem auch sehr schnell wieder beschnitten. Insofern ist diese Protestbewegung ein erster Versuch, demokratische Strukturen zu entwickeln. Man versucht sich selber zu organisieren, durch Fundraising Gelder aus eigenen Quellen zu sammeln. Das ist alles sehr spannend. Man ist noch unsicher, aber wir brauchen diese Entwicklung, um wirklich zu wachsen, um demokratisch zu werden.

Das muss von innen aus dem Land selber kommen?

Ja. Und so geht es auch den Schwulen, Lesben und Transgendern in Russland. Der Paragraph §121 (Pendant zum deutschen §175) wurde damals von Jelzin klammheimlich abgeschafft, um in den Europarat aufgenommen zu werden. Aber das war kein von der Community erkämpfter Sieg. Bis heute glauben ein Drittel der Russen, dass Homosexualität eine Krankheit ist, obwohl der Tatbestand auch in Russland 1996 abgeschafft wurde.

Ein Mitglied von Pussy-Riot meinte sinngemäß, dass es positiv sei, dass die Leute nun protestieren.

Ja, da findet ein Erwachen statt. Was allerdings auch stattfindet ist eine Teilung der Gesellschaft. Die ist in Sachen Pussy-Riot geteilt und auch was das Anti-Propaganda-Gesetz (Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität und Pädophilie“, Anm. d. Red.) betrifft. Und leider noch nicht zu unseren Gunsten. Man kann schon sagen, dass die Klügsten auf unserer Seite sind, aber die Mehrheit spricht sich für das Anti-Propaganda-Gesetz aus.

Man hört von Bestrebungen, gesetzliche Regelungen auch landesweit zu schaffen.

Das föderale Gesetz ist erst mal auf Eis gelegt. Mittlerweile sind es aber schon 10 Regionen, die das Anti-Propaganda-Gesetz verabschiedet haben. Das Gesetz findet leider eine breite Anerkennung in der Gesellschaft. Da tut sich jeder Politiker hervor, wenn er so einen Gesetzesentwurf einreicht, und macht mit wenig Aufwand Karriere.

Wie wirkt sich eine solche Gesetzgebung auf den Alltag von LGBTIs aus?

Es herrscht eine Atmosphäre des Schweigens. Dazu kommt, dass die Aggression und Homophobie, die es auch vorher schon gab, jetzt quasi legalisiert wird. Die Neonazis fühlen sich mit ihrer Gewalt bestätigt. Sie kämpfen ja für das Rechtmäßige, für den Erhalt der Familie. Dieses Klima ist schon sehr, sehr bedrückend.

Gibt es noch queere Kneipen oder Bars?

Ja, die sind erlaubt, aber das ist ja kein öffentliches Leben. Was nun hinzu kommt ist das Verbot von Demonstrationen. Und die Verdrängung von LGBTI-Themen aus allen Bereichen. So wurde bei einem Filmfest in St. Petersburg ein spanischer Film über zwei Lesben verboten. Das war keine schwul-lesbische Veranstaltung, aber nun wurde dieses „heterosexuelle“ Filmfest auch dieses Themas beraubt.

Das Thema verschwindet einfach aus der Öffentlichkeit?

Einerseits ja, andererseits schreiben viel mehr Menschen darüber. Ich weiß von einem Aktivisten, der ein LGBTI-Nachrichtenportal verwaltet, dass seitdem das Gesetz da ist, fünf Mal so viel über LGBTI-Themen geschrieben wird wie vor einem Jahr. Meist sind das aber sehr gute Beiträge – nur nicht, wenn sie aus der Putinschen Propagandafabrik kommen. Dort ist man sich natürlich einig, dass Homosexualität der innere Feind ist und westliche Propaganda, um Russland zu ruinieren. Putin setzt auf das Irrationale: auf die Religion, die Xenophobie und auf den inneren und äußeren Feind. Der äußere Feind ist – allgemein formuliert – „der Westen“.

Von außen betrachtet scheint es manchmal, als gäbe es keine Alternative zu Putin…

Das ist ein Argument, das auch sehr häufig von Putin und seinen Befürwortern gebraucht wird. Wie sollen sich auch Alternativen aufzeigen, wenn er alle Fernsehprogramme kontrolliert, an keinen Debatten teilnimmt und Chodorkowski im Knast sitzt? Im Moment findet in Russland gerade der Versuch statt, die Oppositionskräfte zu vereinen. Das ist ein Versuch, die Wahlen so durchzuführen, wie es sich eigentlich gehört: mit öffentlichen Debatten auf einem demokratischen Fernsehkanal. Plan ist auch, eine repräsentative Kommission von Oppositionellen zu wählen.

Die soll dann die Opposition nach außen vertreten?

Genau. Und da gibt’s ein paar Kandidaten, die auch offen für die Rechte von Lesben und Schwulen eintreten. Wobei sie selber heterosexuell sind. Wie z.B. der Linkskandidat Nikolai Kavkazsky, der seit Juli in der Untersuchungshaft sitzt*. Die Menschen sollen Vertrauen gewinnen und sehen, wie es eigentlich ablaufen soll. Weder Putin noch Medwedew haben jemals an politischen Diskussionen teilgenommen, sondern nur Monologe geführt. Oder sie sitzen vor einem Publikum, das nur genehme Fragen stellt.

Es scheint, als ob Russland einen langen Weg zur Demokratie vor sich hätte.
Herzlichen Dank Wanja für das Gespräch!

Interview: Sibylle Weymar, Queeramnesty Hamburg

Meldungen 2012

Meldungen | Europa : Beitrag zu Deutschland für die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz

Meldungen | Trinidad und Tobago : Amnesty International begrüßt die Position der Premierministerin gegenüber Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung

Meldungen | Uganda : LGBT in Uganda: Gesetz nicht eingebracht

Meldungen | Kamerun : Berufungsgericht in Kamerun hält Urteilsspruch von drei Jahren Gefängnis für ‚homosexuelles Verhalten’ aufrecht

Meldungen | Europäische Union : Nobelpreis: EU muss auf Erreichtem aufbauen, Menschenrechtsmängel angehen

Meldungen | Russland : Homophobie wird quasi legalisiert

Meldungen | Berlin | Türkei : „Weder Krankheit noch Verbrechen“

Meldungen | Südafrika : Verbrechen aus Hass

Meldungen | Schweiz : Flüchtlinge bei Queeramnesty Schweiz

Meldungen | Deutschland : „Proudly African & Transgender“ in Schwerin

Meldungen | Südafrika | Uganda : Homophobie in Afrika

Meldungen | Vereinte Nationen | Weltweit : In einem bahnbrechenden UN-Votum verurteilen Regierungen außergerichtliche Exekutionen

Meldungen | Europa | Europäische Union : Amnesty: Europa muss Transgender besser schützen

Meldungen | Malawi : Ein historischer Schritt nach vorne: Aufhebung der Anti-Homosexualitätsgesetze in Malawi

Meldungen | Mazedonien : Mazedonien: Regierung muss LGBTI Menschen vor Diskriminierung schützen

Meldungen | Uganda : Trailer: "Call me Kuchu" - Dokumentation über die LGBT-Community Ugandas

Meldungen | Afrika | Uganda : "CALL ME KUCHU": DOKU ÜBER DIE LGBT-COMMUNITY IN UGANDA AB SOFORT IM KINO

Meldungen | Simbabwe : Zimbabwe: Einhalt für polizeiliche Einschüchterung von LGBTI Aktivisten

Meldungen | Mittelamerika | Barbados : Barbados: Amnesty Internationals Vorlage für den UN Universal Periodic Review

Meldungen | Bulgarien : Video: Changing laws, changing minds

Meldungen | Afrika | Uganda : Uganda und homosexuelle Handlungen

Meldungen | Europa | Lettland : Baltic Pride kann in Riga am 02. Juni 2012 ohne Zwischenfälle stattfinden

Meldungen | Armenien | Aserbaidschan | Georgien : ‘Virulente’ homophobe Übergriffe bringen Aktivist_innen im Südkaukasus in Gefahr

Meldungen | Kamerun | Südafrika : Afrika: Beende die Diskriminierung von LGBTI Menschen am Internationalen Tag gegen Homophobie!

Meldungen | Weltweit : Ein enormer Schatz an Talenten und Fähigkeiten

Meldungen | Europa | Russland : Homosexualität ist keine Perversion. Pervers ist Ballett auf dem Eis!

Meldungen | Nordamerika | USA : Fast 40% der Wähler_innen in North Carolina lehnen das Verbot der gleichgeschlechtliche Ehe ab

Meldungen | Moldawien : Verbot von LGBTI Demonstrationen erzeugt gefährliche Spannungen in Moldawien

Meldungen | Ungarn : Ungarn: Behörden müssen das Verbot des Pridemarsches 2012 aufheben

Meldungen | Europa : EUROPÄISCHE LGBT-UMFRAGE IM AUFTRAG DER EU-GRUNDRECHTSAGENTUR (FRA)

Meldungen | Irak : Pressemitteilung: Irak - Untersucht "EMO" Angriffe

Meldungen | Antigua und Barbuda : Antigua und Barbuda: Amnesty International begrüßt das Engagement, Menschenrechtsverletzungen aufgrund sexueller Orientierung zu verurteilen

Meldungen | Deutschland : Intersexualität und Menschenrechte – Stellungnahme von Queeramnesty zu den Empfehlungen des Deutschen Ethikrats

Meldungen | Kamerun : Kamerun muss das Gesetz, das homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, aufheben

Meldungen | Afrika : Die Rhetorik tunesischer Staatsbeamter unterminiert die Menschenrechte

Meldungen | Deutschland : LGBT-Filme bei der Berlinale 2008

Meldungen | Kamerun : Mahnwache für Roger Mbede: Auch nach Briefmarathon demonstriert Amnesty für Einzelfälle

Meldungen | Uganda : Uganda: Regierung veranstaltet Razzia bei Workshop zu LGBT-Rechten

Meldungen | Kamerun : Der Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen in Kamerun

Meldungen | Lettland : Im Auftrag von Amnesty

Meldungen | Europa : Menschenrechte sind mein Stolz

Meldungen | Afrika | Kamerun : DIE SITUATION VON HOMOSEXUELLEN IN KAMERUN

Meldungen | Deutschland : MERSI empfängt 15-köpfige Delegation vom Auswärtigen Amt

Meldungen | Malaysia : Malaysia: Der Fall „Anwar“ zeigt, weshalb die Antihomosexuellen-Gesetzgebung abgeschafft werden muss

Meldungen nach Jahren