Wanja war im Rahmen der Pride Week beim diesjährigen Hamburger CSD Gast einer Podiumsdiskussion zum Thema „Zwischen Verfolgung und Selbstbestimmung – Die Menschenrechtssituation von LGBTI weltweit“, die u.a. von Queeramnesty Hamburg präsentiert wurde.
Ist Russland auf dem Weg in eine Diktatur?
Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg in die Diktatur war in Deutschland damals das Verbot von Vereinen. So weit ist es in Russland noch nicht, aber man schränkt die Vereinsrechte enorm ein. Finanzielle Unterstützung aus dem Ausland kann zwar weiter bezogen werden, man muss sich aber als „ausländischer Agent“ registrieren lassen und sich einem gesonderten Berichts- und Kontrollsystem unterwerfen.i Das sind sehr Besorgnis erregende Zeichen. Andererseits entwickelt sich auch gerade eine starke Protestbewegung.
Dann kann man der ernsten Situation auch etwas Positives abgewinnen?
Eine Protestbewusstsein hatte Russland bisher nicht. Das hat es nicht gelernt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die demokratischen Strukturen unterentwickelt und wurden zudem auch sehr schnell wieder beschnitten. Insofern ist diese Protestbewegung ein erster Versuch, demokratische Strukturen zu entwickeln. Man versucht sich selber zu organisieren, durch Fundraising Gelder aus eigenen Quellen zu sammeln. Das ist alles sehr spannend. Man ist noch unsicher, aber wir brauchen diese Entwicklung, um wirklich zu wachsen, um demokratisch zu werden.
Das muss von innen aus dem Land selber kommen?
Ja. Und so geht es auch den Schwulen, Lesben und Transgendern in Russland. Der Paragraph §121 (Pendant zum deutschen §175) wurde damals von Jelzin klammheimlich abgeschafft, um in den Europarat aufgenommen zu werden. Aber das war kein von der Community erkämpfter Sieg. Bis heute glauben ein Drittel der Russen, dass Homosexualität eine Krankheit ist, obwohl der Tatbestand auch in Russland 1996 abgeschafft wurde.
Ein Mitglied von Pussy-Riot meinte sinngemäß, dass es positiv sei, dass die Leute nun protestieren.
Ja, da findet ein Erwachen statt. Was allerdings auch stattfindet ist eine Teilung der Gesellschaft. Die ist in Sachen Pussy-Riot geteilt und auch was das Anti-Propaganda-Gesetz (Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität und Pädophilie“, Anm. d. Red.) betrifft. Und leider noch nicht zu unseren Gunsten. Man kann schon sagen, dass die Klügsten auf unserer Seite sind, aber die Mehrheit spricht sich für das Anti-Propaganda-Gesetz aus.
Man hört von Bestrebungen, gesetzliche Regelungen auch landesweit zu schaffen.
Das föderale Gesetz ist erst mal auf Eis gelegt. Mittlerweile sind es aber schon 10 Regionen, die das Anti-Propaganda-Gesetz verabschiedet haben. Das Gesetz findet leider eine breite Anerkennung in der Gesellschaft. Da tut sich jeder Politiker hervor, wenn er so einen Gesetzesentwurf einreicht, und macht mit wenig Aufwand Karriere.
Wie wirkt sich eine solche Gesetzgebung auf den Alltag von LGBTIs aus?
Es herrscht eine Atmosphäre des Schweigens. Dazu kommt, dass die Aggression und Homophobie, die es auch vorher schon gab, jetzt quasi legalisiert wird. Die Neonazis fühlen sich mit ihrer Gewalt bestätigt. Sie kämpfen ja für das Rechtmäßige, für den Erhalt der Familie. Dieses Klima ist schon sehr, sehr bedrückend.
Gibt es noch queere Kneipen oder Bars?
Ja, die sind erlaubt, aber das ist ja kein öffentliches Leben. Was nun hinzu kommt ist das Verbot von Demonstrationen. Und die Verdrängung von LGBTI-Themen aus allen Bereichen. So wurde bei einem Filmfest in St. Petersburg ein spanischer Film über zwei Lesben verboten. Das war keine schwul-lesbische Veranstaltung, aber nun wurde dieses „heterosexuelle“ Filmfest auch dieses Themas beraubt.
Das Thema verschwindet einfach aus der Öffentlichkeit?
Einerseits ja, andererseits schreiben viel mehr Menschen darüber. Ich weiß von einem Aktivisten, der ein LGBTI-Nachrichtenportal verwaltet, dass seitdem das Gesetz da ist, fünf Mal so viel über LGBTI-Themen geschrieben wird wie vor einem Jahr. Meist sind das aber sehr gute Beiträge – nur nicht, wenn sie aus der Putinschen Propagandafabrik kommen. Dort ist man sich natürlich einig, dass Homosexualität der innere Feind ist und westliche Propaganda, um Russland zu ruinieren. Putin setzt auf das Irrationale: auf die Religion, die Xenophobie und auf den inneren und äußeren Feind. Der äußere Feind ist – allgemein formuliert – „der Westen“.
Von außen betrachtet scheint es manchmal, als gäbe es keine Alternative zu Putin…
Das ist ein Argument, das auch sehr häufig von Putin und seinen Befürwortern gebraucht wird. Wie sollen sich auch Alternativen aufzeigen, wenn er alle Fernsehprogramme kontrolliert, an keinen Debatten teilnimmt und Chodorkowski im Knast sitzt? Im Moment findet in Russland gerade der Versuch statt, die Oppositionskräfte zu vereinen. Das ist ein Versuch, die Wahlen so durchzuführen, wie es sich eigentlich gehört: mit öffentlichen Debatten auf einem demokratischen Fernsehkanal. Plan ist auch, eine repräsentative Kommission von Oppositionellen zu wählen.
Die soll dann die Opposition nach außen vertreten?
Genau. Und da gibt’s ein paar Kandidaten, die auch offen für die Rechte von Lesben und Schwulen eintreten. Wobei sie selber heterosexuell sind. Wie z.B. der Linkskandidat Nikolai Kavkazsky, der seit Juli in der Untersuchungshaft sitzt*. Die Menschen sollen Vertrauen gewinnen und sehen, wie es eigentlich ablaufen soll. Weder Putin noch Medwedew haben jemals an politischen Diskussionen teilgenommen, sondern nur Monologe geführt. Oder sie sitzen vor einem Publikum, das nur genehme Fragen stellt.
Es scheint, als ob Russland einen langen Weg zur Demokratie vor sich hätte.
Herzlichen Dank Wanja für das Gespräch!
Interview: Sibylle Weymar, Queeramnesty Hamburg