AMNESTY INTERNATIONAL – ÖFFENTLICHE STELLUNGNAHME
Index: IOR 10/7293/2017 – 20. Oktober 2017
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet derzeit an der Erstellung der Internationalen Klassifikation von Krankheiten, der 11. Ausgabe des ICD. Amnesty International begrüßt den Vorschlag, in einem neuen Kapitel über "Bedingungen für sexuelle Gesundheit" eine neue Kategorie "Geschlechtsinkongruenz in Adoleszenz / Erwachsensein" einzuführen. Dieser Passus würde die Klassifikationen "Transsexualität" und "Geschlechtsidentitätsstörung als "geistige und verhaltensbezogene Störungen", beenden und Einzelpersonen entstigmatisieren, ihre Menschenrechte stärken und könnte eine Gesundheitsversorgung und Finanzierung entsprechend der Geschlechtsidentität sicherstellen.
Amnesty International empfiehlt der WHO, diesen Vorschlag umzusetzen. Wir ermutigen die WHO außerdem, Trans*- und Menschenrechts-Organisationen der Zivilgesellschaft aktiv in den Reformprozess des ICD einzubeziehen und sie über die laufende Entwicklung zu informieren.
Während der ICD-Überprüfungsprozess fortgesetzt wird, haben mehrere Länder auf der ganzen Welt bereits Schritte unternommen, um Trans*identitäten zu entpathologisieren und Barrieren für den Zugang zu Trans*spezifischer Gesundheitsversorgung und zur rechtlichen Geschlechtsanerkennung zu reduzieren. Im Jahr 2012 wurde weltweit das erste Gesetz zur Geschlechtsidentität, das keine medizinischen Anforderungen enthielt, in Argentinien in Kraft gesetzt. Ähnliche Gesetze wurden in Kolumbien, Dänemark, Irland, Malta und Norwegen verabschiedet, während der indische Oberste Gerichtshof im Jahr 2014 das Recht von Einzelpersonen anerkannte, "ihr selbst identifiziertes Geschlecht zu bestimmen", wenngleich noch keine entsprechende Gesetzgebung in Kraft getreten ist.
In jüngster Zeit hat Griechenland eine Gesetzgebung verabschiedet, die ausdrücklich festlegt, dass Trans*Personen ihre Ausweispapiere ändern können, ohne dass medizinische Diagnosen oder Tests erforderlich sind. Die Verabschiedung dieses Gesetzes war ein Schritt nach vorne, obwohl es immer noch einige Einschränkungen enthält, die bestimmten Gruppen den Zugang zur Geschlechtsidentität vorenthalten, und weiterhin wird noch eine Form der Diagnose für Kinder zwischen 15 und 16 Jahren verlangt.
Amnesty International fordert ein weltweites Ende der Pathologisierung von Trans* Identitäten. Länder, die neue Gesetze und Richtlinien entwickeln, die Trans*Personen betreffen, einschließlich der rechtlichen Geschlechtsanerkennung, müssen sicherstellen, dass die Menschenrechte respektiert werden. Amnesty International unterstützt derzeit dem Trans*-Menschenrechtsverteidiger Sakris Kupila an, der sich in Finnland für ein schnelles, zugängliches und transparentes Verfahren für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität, einschließlich der Aufhebung der Anforderungen einer psychiatrischen Diagnose, einsetzt. Treten Sie unserer Kampagne bei.
Hintergrund
Trans*- oder im englischen: Transgender-Personen sind Personen, deren Geschlechtsausdruck und / oder Geschlechtsidentität sich von herkömmlichen Erwartungen auf der Grundlage des physischen Geschlechts unterscheiden, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Trans*-Individuen können sich keinen, einigen oder allen möglichen Formen der geschlechtsangleichenden Behandlung unterziehen.
Nach Angaben von Transgender Europe verlangen allein in Europa 35 Länder eine psychiatrische Diagnose als Voraussetzung für eine rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität. Amnesty International hat die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die sich aus dieser und anderen Anforderungen für Trans*-Personen ergeben.
Die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) hat ein Ende der Trans-Pathologisierung weltweit gefordert und führt aus, dass diese "Pathologisierung von Geschlechtsmerkmalen und -identitäten ... zu Stigmatisierung oder deren Verstärkung führen [kann], wodurch Vorurteile und Diskriminierung wahrscheinlicher werden, Trans* Personen anfälliger für soziale und legale Marginalisierung und Ausgrenzung werden und das seelische und körperliche Wohlbefinden in Gefahr sind." Der UN-Sonderberichterstatter für Gesundheit kommentierte Anfang 2017: "Während viele Menschen diagnostische Kategorien als nützlich erachten, um ihnen Zugang zu Dienstleistungen zu ermöglichen und ihre psychische Gesundheit besser zu verstehen, finden andere sie nicht hilfreich und stigmatisierend ... Die Pathologisierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und intersex Personen macht ihre Identitäten zu einer Krankheit, was sie stigmatisiert und diskriminiert."
"In Finnland ist eine psychiatrische Diagnose erforderlich, um Zugang zu spezifischen Trans* Behandlungen im Gesundheitswesen zu erhalten, und für die rechtliche Geschlechtsanerkennung. Der Diagnoseprozess kann mehrere Jahre dauern. Um eine rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität zu erhalten und eine transspezifische Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen, muss die spezifische Diagnose "Transsexualität" eingeholt werden. Andere Diagnosen ermöglichen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung oder letztlich keine rechtliche Geschlechtsanerkennung. Trans*-Menschen, die nicht der binären Trennlinie zwischen Männern und Frauen entsprechen, werden beispielsweise nicht mit "Transsexualität", sondern mit "anderen Geschlechtskrankheiten" diagnostiziert, was sie vom Zugang zu einer rechtlichen Geschlechtsanerkennung ausschließt.
Nach der Diagnose muss die Person einen "Real-Life-Test" durchlaufen, ein Test, der vom CEDAW-Ausschuss (Ausschuss zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen) kritisiert wurde, da stereotype Geschlechterrollen gefördert werden, in denen eine Person beweisen muss, dass er oder sie für einen Zeitraum von einem Jahr entsprechend der Geschlechtsidentität lebt. Eine weitere Anforderung ist die Sterilisation, bei der Trans* Personen invasive medizinische Behandlungen, manchmal gegen ihren Willen, nur zum Zwecke der Erlangung einer rechtlichen Geschlechtsanerkennung durchführen müssen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im April 2017 festgestellt, dass die Sterilisierungsanforderungen für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität eine Menschenrechtsverletzung darstellen.