Der Homosexuelle Diego Vieira Machado starb auf dem Campus der Staatsuniversität von Rio de Janeiro. Die halbnackte, verstümmelte Leiche des 29-jährigen Literaturstudenten aus Belém am Amazonas wurde im vergangenen Juli mit Folterspuren und Kopfverletzungen am Ufer der Guanabara-Bucht gefunden. "Er flüchtete vor der Homophobie, die bei uns im Norden weit verbreitet ist", erzählt sein Bruder Maycon in einem Vorort von Belém. "In Rio hoffte er, eine liberale Gesellschaft zu finden, die sein Schwulsein akzeptiert. Ausgerechnet dort wurde er deswegen brutal ermordet."
Machado ist nicht das einzige Opfer. Brasilien erlebt seit einigen Jahren eine Welle homophober Gewalt. Allein im Jahr 2015 wurden 318 Lesben, Schwule und Transgeschlechtliche wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität ermordet - alle 27 Stunden ein Mord. "Es ist zuletzt deutlich
schlimmer geworden", sagt Jandira Queiroz von Amnesty International in Brasilien. "Die Lage droht außer Kontrolle zu geraten."
Von Januar 2012 bis September 2016 sind 1.600 Homosexuelle und Transgeschlechtliche in Brasilien getötet worden, schätzt die Nichtregierungsorganisation "Grupo Gay da Bahia", die Zeitungsmeldungen ausgewertet hat. Sie ist die älteste und am besten organisierte Vereinigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) des Landes.
Die Opferzahl dürfte weit höher liegen, denn oft werden homophobe Morde von der Polizei nicht als solche registriert. Brasilien genießt das Image eines offenen und toleranten Landes. In São Paulo findet jedes Jahr die größte Schwulenparade der Welt statt, im Karneval wird Sexualität geradezu öffentlich zelebriert. Seit dem Ende der Militärdiktatur vor 30 Jahren hat das Parlament viele Gesetze verabschiedet, die das Leben der sexuellen Minderheiten verbesserten. Seit 1996 bietet das Land kostenlos Medikamente für HIV-Infizierte; schwule und lesbische Paare dürfen Kinder adoptieren; 2013 wurde die Homo-Ehe legalisiert. Doch hinter der liberalen Fassade schwelen Hass und Gewalt.
"Ich bin schon oft zusammengeschlagen und vergewaltigt worden", sagt der Transvestit Natascha Carvalho. Er zeigt bei diesen Worten keinerlei Gefühlsregung, so als habe er sich an die Gewalt gewöhnt. Er lebt in São Jorge, einem Armenviertel von Manaus, in dem viele Drogenabhängige, Schwule und Transvestiten wohnen. Natascha brach früh die Schule ab, kann kaum schreiben. "Ich konnte keinen Job finden. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf den Strich zu gehen."
Natascha hat blond gefärbte lange Haare und schlecht lackierte Fingernägel. Der Transvestit kennt viele, die homophober Gewalt zum Opfer fielen. Eine lesbische Freundin wurde von einer Gruppe Männer brutal vergewaltigt, die ihr eine Lektion erteilen und sie zu einer "richtigen" sexuellen Orientierung zwingen wollten. Ein schwuler Nachbar wurde mit 55 Messerstichen ermordet - dabei war er schon nach dem dritten tot. Natascha will weg: "Wenn ich genug Geld gespart habe, gehe ich nach São Paulo", sagt der Transvestit. "Ich kenne dort einen Mann, bei dem ich wohnen kann."
Selbst in diesem Land, in dem Gewalt weit verbreitet ist, fallen die Morde an Homosexuellen durch ihre Brutalität auf. "Die Homophobie ist in der brasilianischen Kultur tief verwurzelt", sagt der Anthropologe Luiz Mott, Begründer der "Grupo Gay da Bahia". "Die Gewalt gegen Schwule wird durch den Machismo beflügelt, der in der Gesellschaft salonfähig ist. Eine typische brasilianische Mutter würde lieber einen Dieb als Sohn haben als einen Schwulen." Homosexuelle oder Transgeschlechtliche würden oft von ihren Familien verstoßen, in der Schule gemobbt und landeten letztlich auf dem Strich.
Schuld an der zunehmenden Gewalt sind aber auch die evangelikalen Pfingstkirchen, die offen gegen sexuelle Minderheiten und Transgeschlechtliche hetzen. Sie breiteten sich in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten rasend schnell aus, schon heute sollen ihnen etwa 30 Prozent der Bevölkerung angehören. Die Evangelikalen halten Homosexualität für eine perverse Krankheit und Gotteslästerung - und jagen nicht-heterosexuelle Kirchenmitglieder regelrecht.
"Die nutzen jede Möglichkeit, um gegen uns zu lästern", sagt der Schwulenaktivist Eduardo Benigno von der "Grupo Homosexual do Pará" in Belém. "Selbst während der Messen stacheln sie die Kirchgänger_innen auf." Als schwuler Student kämpfte er gegen die Stigmatisierung HIV-Infizierter und gegen die Verbreitung von AIDS, nun setzt sich der 39-Jährige für LGBTI-Rechte ein.
Die evangelikalen Kirchen kontrollieren in Brasilien Dutzende von Fernsehstationen und Radiosendern, über die sie homophobe Propaganda verbreiten. Inzwischen haben sie auch einen enormen Einfluss auf die brasilianische Politik, rund 60 evangelikale Abgeordnete und Senatoren sitzen im Kongress in Brasilia. Sie bilden dort eine starke und sehr disziplinierte Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, jede weitere Liberalisierung der Gesetzgebung in Bezug auf sexuelle Minderheiten zu stoppen und die bisher gewährten Freiheiten konsequent zurückzunehmen. Sie widersetzten sich zuletzt dem Vorstoß, die Strafen für Schwulendiskriminierung zu verschärfen und blockierten eine
Bildungsreform, die darauf zielte, Toleranz gegenüber Minderheiten an den Schulen zu lehren.
Einer ihrer prominenten Anführer, der Kongressabgeordnete Jair Bolsonaro, fordert gar körperliche Züchtigung, um Homosexuelle zu Heterosexuellen zu erziehen. Sein konservativer Kollege Marco Feliciano sieht den Fortbestand der Nation und der Familie gefährdet, da gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder haben können.
Solche Stimmen verstärken die Vorurteile in der Gesellschaft - und im Staatsapparat. Die Polizei hält es für überflüssig, Trainingsprogramme für Beamte abzuhalten, die bei der Bekämpfung von Anti-Gender-Kriminalität eingesetzt werden.
Dabei werfen Opfer homophober Gewalt der Polizei immer wieder vor, sie zu schikanieren und zu demütigen. Auch vor Gericht geht es nicht immer vorurteilslos ab. Meist werden Angriffe auf Homosexuelle entweder gar nicht oder nur äußerst milde bestraft. Und oft kommen die Täter mit einer Geldstrafe davon.
Berto Paes kennt das aus eigener Erfahrung. Der Besitzer der "Bar do Angela" in Belém, die als beliebter Treffpunkt von Schwulen und Lesben bekannt ist, wurde von Polizisten verprügelt und eingesperrt. "Zwei Beamte kamen herein, als wir eine Party gefeiert haben, und begannen, die Leute ohne Grund zu durchsuchen", erzählt der 43-Jährige. "Sie fassten den Frauen zwischen die Beine und an die Brüste, dann verlangten sie Geld." Als er gegen die Belästigung seiner Gäste protestierte, wurde er kurzerhand abgeführt und im Gefängnis zusammengeschlagen.
Nach heftigen Protesten der brasilianischen Vereinigung der Lesben, Schwulen und Transgeschlechtlichen wurde Paes zwar am nächsten Tag freigelassen, doch seine Klage gegen die Polizisten wurde aus Mangel an Beweisen abgewiesen - trotz eindeutiger Prügelspuren.
"Die Polizei ist doch nur Abbild der Gesellschaft", sagt die Transgeschlechtliche Renata Taylor, die selbst mehrmals Opfer der Polizei wurde und sich immer wieder mit Gewalt konfrontiert sieht. Vor dem Teatro da Paz, einem neoklassischen Bau in Belém, fällt Taylor durch ihre ein Meter neunzig sofort auf. Sie trägt ein Stirnband, das ihre langen schwarzen Haare nach hinten fallen lässt. "Früher haben hier nachts Transgeschlechtliche und Schwule auf die Freier gewartet", sagt die 48-Jährige. "Manchmal kam die Polizei, schnappte sich die Leute und ließ sie stundenlang in einem Brunnen hocken."
Taylor, eine ausgebildete Friseurin, ging auch eine Zeit lang auf den Strich, weil niemand in der Stadt ihr einen Job geben wollte. Dann machte sie einen eigenen kleinen Salon auf - und begann, sich für die Rechte der LGBTI-Gemeinde einzusetzen. Heute ist Taylor geschäftsführende Sekretärin der Menschenrechtsabteilung der ANTRA, der Nationalen Vereinigung von Transsexuellen und Transvestiten.
Verantwortlich für die homophobe Gewalt sei vor allem der Mangel an Bildung, glaubt Taylor. "Viele Leute halten Transgeschlechtliche und Schwule tatsächlich für perverse oder zumindest sexsüchtige Menschen. Sie haben diese Vorurteile und Verleumdungen immer wieder gehört." Das Problem wird durch die Armut verstärkt, die die Schwulen und Transgeschlechtlichen bei ihrem Kampf ums Überleben an den Rand der Gesellschaft führt, in die Prostitution und Kriminalität.
In diesem von homophober Gewalt geprägten brasilianischen Alltag ist die Christliche Gegenwartskirche (Igreja Cristã Contemporânea) ein wichtiger Zufluchtsort. Sie wurde 2006 von dem schwulen Rechtsanwalt und Theologen Marcos Gladstone in Rio de Janeiro gegründet und steht sexuellen Minderheiten und Transgeschlechtlichen offen. "Wir sind der Meinung, dass Homosexuelle, Lesben und Transgeschlechtliche genauso Gottes Kinder sind wie die anderen", sagt der 50-jährige Gladstone, der mit einem schwulen Pastorenkollegen verheiratet ist und zwei adoptierte Jungen großzieht. Ihre Ehe wurde vergangenes Jahr offiziell registriert - als erste Homo-Ehe zwischen zwei Pastoren in Brasilien.
"In seiner Barmherzigkeit kann unser allmächtiger Gott niemanden verstoßen", sagt Gladstone. "Auch die Schwulen nicht." Der Hauptsitz der Kirche befindet sich in Madureira, im Norden von Rio de Janeiro. Vor dem gelb gestrichenen, simplen Gotteshaus schauen private Sicherheitsleute nach dem Rechten. Denn die Kirchgänger haben Angst. "Manche unserer Mitglieder wurden persönlich angegriffen, zusammengeschlagen oder beschimpft", sagt Gladstone. "Leider nimmt die Gewalt in letzter Zeit zu. Ich habe die Sicherheitsmaßnahmen verschärft und versuche, Trost zu spenden."
Die Kirche ist ein Sammelbecken der bunten schwul-lesbischen Gemeinde der Millionenmetropole und wächst jeden Tag. Es kommen frustrierte schwule und lesbische Christen, die von ihren Kirchen verstoßen wurden. Und es kommen heterosexuelle Gläubige, die sich mit der Idee solidarisieren oder ein homosexuelles Familienmitglied begleiten.
In der Messe läuft alles den gewohnten christlichen Gang, eine Band spielt erbauliche Kirchenlieder, die Gemeinde singt mit und tanzt. Gladstone hält die Predigt. "Wir unterscheiden uns in der christlichen Lehre nicht von anderen Kirchen", betont der Pastor. "Wir sind aber der Meinung, dass auch Schwule das Recht haben, das Wort Gottes zu hören."
Inzwischen hat die Gegenwartskirche fünf Gotteshäuser und mehr als 12.000 Anhänger. Nach Rio de Janeiro hat Gladstone Kirchen in São Paulo und Belo Horizonte eröffnet. Die Messen sind auch dort gut besucht. "Die LGBTI-Gemeinde ist überwiegend genauso gläubig wie die Heteros", sagt Gladstone. "Sie braucht geistliche Führung." Die Kirche lebt von Spenden ihrer Mitglieder, die zumeist der Mittelklasse angehören.
Gladstone geht nicht nur seinen seelsorgerischen Pflichten nach, er wirbt auch bei jeder Gelegenheit für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Er gibt Interviews in brasilianischen Medien, sucht den Dialog mit anderen religiösen Führern, aber auch mit den Hetzer_innen aus der Politik. "Nur durch Bildung und Aufklärung lässt sich die Gewalt gegen Schwule und Transgeschlechtliche abbauen", sagt der Pastor. "Und mit Gottes Hilfe."
Von Andrzej Rybak