John Jeanette Solstad Remø (rechts) und Norwegens Minister für Gesundheit Bent Høie
John Jeanette Solstad Remø (rechts) und Norwegens Minister für Gesundheit Bent Høie © Amnesty International/Ina Strøm

Meldungen | Norwegen : Historischer Durchbruch für Trans*-Rechte

Die zentralen Gesetzesreformen, die das norwegische Gesundheitsministerium am 18. März vorgeschlagen hat, stehen für einen Durchbruch, der das Leben von Trans*Personen in Norwegen noch auf Generationen verändern könnte, so die Einschätzung von Amnesty International.

18. März 2016, 11:20 UTC

Falls der Vorschlag des Ministeriums vom Parlament verabschiedet wird, würde er Trans*Personen mit einem schnellen, zugänglichen und transparenten Verfahren den Weg zur rechtlichen Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität ebnen. Die Bedeutung des Entwurfs liegt darin, dass er Einzelpersonen erlauben würde, ihre Geschlechtsidentität selbst zu bestimmen, und dass er den diskriminierenden Anforderungen ein Ende machen würde, die eine Reihe von Menschenrechten verletzen und ein beschämendes Erbe für Norwegen darstellen.

"Das ist ein Meilenstein für uns alle, die wir hart um das Recht gekämpft haben, die sein zu dürfen, die wir sind. Dank der vereinten Anstrengungen, welche wir zusammen mit Trans*-Aktivist_innen und LGBT-Organisationen hier im Land unternommen haben, können wir uns darauf freuen, dass bald ein Gesetz verabschiedet wird, welches Trans*Personen Zugang zur rechtlichen Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität ermöglicht", sagte Patricia M. Kaatee, strategische Beraterin bei Amnesty International Norwegen.

"Wir begrüßen es, dass die norwegische Regierung die Rechte von Trans*Personen ernst nimmt, und fordern das Parlament auf, Jahrzehnten diskriminierender Praktiken ein Ende zu machen, indem es das Gesetz verabschiedet."

Geschlechtsidentität und rechtlicher Status von Minderjährigen

Der neue Vorschlag würde das Alter, ab dem Einzelpersonen ihre Geschlechtsidentität selbst bestimmen und deren rechtliche Anerkennung beantragen können, von 18 auf 16 Jahre senken. Kinder zwischen sechs und 16 Jahren könnten dies mit elterlicher Zustimmung tun. Falls die Eltern nicht zustimmen, wird ein externes Gremium im Sinne des Kindeswohls entscheiden.

Nach dem neuen Gesetzesvorschlag können Kinder unter sechs Jahren ihr amtliches Geschlecht nicht entsprechend ihrer Geschlechtsidentität ändern. Während die Senkung der Altersgrenze ein willkommener Schritt ist, sieht Amnesty International generell keinen Bedarf für eine Altersgrenze angesichts des Wohls des Kindes, seiner sich entwickelnden Fähigkeiten und seines Rechts, gehört zu werden.

Bisherige Praxis

In Norwegen wurde Trans*Personen die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität dadurch verweigert, dass dafür Anforderungen erhoben wurden, welche mehrere Menschenrechte verletzten. Zu diesen Rechten zählen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Schutz des Privatlebens und der Familie sowie das Recht auf bestmögliche Gesundheit.

Die gegenwärtige Praxis stammt aus den 1970er Jahren und zwingt Trans*Personen in Norwegen, eine Reihe von belastenden und diskriminierenden Anforderungen zu erfüllen, um ihr amtliches Geschlecht ändern zu können. Dazu gehört, dass sie eine psychiatrische Untersuchung über sich ergehen lassen, eine psychiatrische Diagnose erhalten und sich einer unumkehrbaren Sterilisation unterziehen müssen.

Amnesty International hat gezeigt, dass solche Verfahren - die auch in vielen anderen europäischen Ländern angewandt werden - entwürdigend sind und Menschenrechte verletzen. Im Februar 2014 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht über die fehlenden Rechte von Trans*Personen in Europa. Norwegen wurde dafür kritisiert, dass es von Menschen verlangte, sich einer unumkehrbaren Sterilisation zu unterziehen, um die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität zu erlangen.

"Endlich als die respektiert, die wir wirklich sind"

Die Organisation hat eine breit angelegte Kampagne zum Fall von John Jeanette Solstad Remø durchgeführt, einer 65 Jahre alten Transfrau aus Norwegen. Sie kann keine rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität erlangen, da sie sich weigert, den herrschenden entwürdigenden Anforderungen zu entsprechen. Ihre offiziellen Dokumente weisen sie deshalb als "männlich" aus, was erniedrigend ist und dazu führt, dass sie täglich als Transfrau geoutet wird. Als Frau anerkannt zu werden, würde für John Jeanette bedeuten, als der Mensch gesehen zu werden, der sie ist. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie ständig von öffentlichen Organen und im Alltag als Mann angesprochen wird. Der neue Gesetzesvorschlag stellt für sie einen lange überfälligen Sieg dar: "Es ist bemerkenswert, diesen neuen Gesetzesvorschlag in Händen zu halten. Das Gesetz wird bedeuten, dass Trans*Personen wie ich endlich als die respektiert werden, die wir wirklich sind. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich einen Ausweis zeigen kann, der mit meiner Geschlechtsidentität und meiner Art, sie auszudrücken, übereinstimmt", so John Jeanette Solstad Remø.

"Jetzt fehlt nur noch eine Parlamentsabstimmung, bevor das in Norwegen Gesetz und Realität sein wird. Um was es bei der Abstimmung wirklich geht, ist Gleichberechtigung, Schutz vor Diskriminierung und Menschenrechte. Deshalb kann ich mir nicht mal im Traum vorstellen, dass das Gesetz mit etwas anderem als einer klaren Mehrheit verabschiedet wird. Das Gesetz wird die Lebensqualität von Trans* in Norwegen jetzt und in Zukunft dramatisch verbessern."

Es liegt nun am norwegischen Parlament, das Gesetz zu verabschieden. Amnesty International ermutigt alle Parlamentsabgeordneten, für ein inklusives und diskriminierungsfreies gesetzliches Rahmenwerk zu stimmen, welches internationalen Menschenrechtsstandards entspricht.

Hintergrund

Im Februar 2014 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht über die fehlenden Rechte von Trans*Personen in Europa. Norwegen wurde für die herrschenden behördlichen Praktiken kritisiert, die eine unumkehrbare Sterilisation und eine psychiatrische Diagnose verlangen, um eine rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität zu erlangen.

Die Organisation forderte die Regierung von Norwegen dazu auf:

  • herrschende Gesetze und Praktiken zu berichtigen, indem sie einen Gesetzesvorschlag für ein Rahmenwerk einbringt, welches Trans*Personen erlaubt, die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität durch ein schnelles, zugängliches und transparentes Verfahren zu erlangen.

  • sicherzustellen, dass diese Vorschläge die Sterilisation als Voraussetzung abschaffen. Dasselbe gilt für andere medizinische Anforderungen, die derzeit in den Fällen durchgesetzt werden, in denen Trans*Personen die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität anstreben.

  • sicherzustellen, dass die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität für alle zugänglich ist, ohne sich einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen und eine psychiatrische Diagnose erhalten zu müssen und dass Trans*-Identitäten aus der nationalen Klassifikation psychischer Störungen gestrichen werden.

  • sicherzustellen, dass Trans*Personen die von ihnen gewünschten medizinischen Behandlungen erhalten, nachdem sie über diese aufgeklärt wurden und ihre Zustimmung gegeben haben.

Gemeinsam mit Trans*-Personen und Nichtregierungsorganisationen in Norwegen lieferte Amnesty International Beiträge zu einer Expertenkommission, die das Ministerium für Gesundheits- und Pflegedienste 2013 eingesetzt hatte. Im April 2015 verkündete die Kommission ihre abschließende Erklärung: Trans*Personen in Norwegen sollten nicht länger dazu gezwungen werden, die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität mit invasiven Behandlungen zu erkaufen.

Seit 2008 setzte sich der norwegische nationale Verband für lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*-Personen (LLH) speziell für die Rechte von Trans*Personen ein und forderte in diesem Zusammenhang auch eine Abschaffung der unumkehrbaren Sterilisation als notwendigem Schritt auf dem Weg zur rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität.

Hier können Sie mehr über die Arbeit von Amnesty International zur rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität von Trans*Personen lesen:

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