Mitte Februar 2023 wurde für den Homosexuellen Paul Hamme in Berlin ein Stolperstein verlegt. © Lino A.
Mitte Februar 2023 wurde für den Homosexuellen Paul Hamme in Berlin ein Stolperstein verlegt. © Lino A.

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Mitte Februar 2023 wurde für den Homosexuellen Paul Hamme in Berlin ein Stolperstein verlegt. Dies ist auch heute noch eine Seltenheit. Dabei wurden Angehörige der LGBTI-Community im Nationalsozialismus konsequent verfolgt, diskriminiert und ermordet. Ihre Diskriminierung setzt sich bis heute fort.

Von Rupert Haag

Nicht einmal 100 Stolpersteine für in der Nazizeit verfolgte Homosexuelle sind in Deutschland bislang verlegt worden. Dies belegt eine Recherche der Themengruppe Queeramnesty. Dabei existieren insgesamt bereits mehr als 75.000 dieser Erinnerungsstücke, mit denen der Künstler Gunter Demnig seit 1992 Menschen aus verschiedenen Opfergruppen ehrt, die im Nationalsozialismus verfolgt, diskriminiert und ermordet wurden. Die Oberseite dieser kleinen Steine besteht aus einer Messingplatte, auf der einige Daten der verfolgten Person zu lesen sind.

Doch nicht einmal 100 Stolpersteine für Homosexuelle bei einer so großen Anzahl von insgesamt verlegten Steinen? Homosexualität galt in Nazi-Deutschland als "widernatürliche Unzucht" und war nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch verboten. Etwa 100.000 Homosexuelle wurden polizeilich erfasst, 50.000 verurteilt. Zwischen 10.000 und 15.000 wurden in Konzentrationslager verschleppt und mussten den "rosa Winkel" tragen.

Intensive Archivrecherche

Queeramnesty recherchierte gemeinsam mit der Stolperstein-Initiative Prenzlauer Berg in verschiedenen Archiven, insbesondere im Landesarchiv Osnabrück, einige der Fälle. Dabei traten auch Akten zu dem verfolgten Berliner Schwulen Paul Hamme zutage, der nach seiner Verurteilung Zwangsarbeit als sogenannter Moorsoldat leisten musste.

Viel ist es nicht, was über Paul Hamme heute noch zu erfahren ist. Er wurde am 1. August 1892 in Berlin-Schöneberg geboren. Im Ersten Weltkrieg war Hamme ein Jahr Soldat und wurde bis ins Baltikum geschickt. Während seines Einsatzes erkrankte er schwer an Grippe, Flecktyphus und Syphilis. Für seine Leistungen erhielt er das Ehrenkreuz II. Klasse und das Badische Verdienstkreuz.

Nach dem Krieg fasste Paul Hamme nie wieder richtig Fuß. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, sprach auf der Straße junge Männer und Jugendliche an, um schnellen Sex mit ihnen zu haben. Seine Nachbarin, eine "Ehefrau Radtke", denunzierte ihn 1937 schließlich bei der Polizei. Hamme wurde aufgrund der Paragrafen 175 und 175a angeklagt und zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus, drei Jahren Ehrverlust und dem Tragen der Verfahrenskosten verurteilt.

Odyssee durch Gefängnisse und Konzentrationslager

Paul Hamme musste eine Odyssee durch zahlreiche Zuchthäuser und Konzentrationslager erdulden, bis er schließlich in das berüchtigte Strafgefangenenlager Börgermoor im Emsland verlegt wurde. Dort musste er Schwerstarbeit im Moor leisten. Am 12. Dezember 1937 befand der dortige Lagerarzt, Hamme sei weiterhin "moorfähig", obwohl er nur noch 64,5 Kilo wog.

Am 5. April 1940 transportierte ihn die Polizei in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin, wo ihn die SS als Paragraf 175-"Berufsverbrecher" einstufte. Paul Hamme starb am 7. Juni 1940 gegen 5 Uhr morgens im KZ Sachsenhausen im Alter von 47 Jahren – angeblich ein Freitod durch Erhängen.

Hätte Paul Hamme die Lager und Zwangsarbeit überlebt, wäre er höchstwahrscheinlich auch nach dem Ende des Nationalsozialismus weiter verfolgt und womöglich auch wieder verhaftet worden. Noch Ende der 1960er Jahre wurden Menschen nach Paragraf 175 verurteilt. 50.000 waren es in der Bundesrepublik insgesamt. Erst 1994 schaffte der Bundestag den "175-er" ab. Weitere 23 Jahre dauerte es, bis die Bundesrepublik die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus strafrechtlich rehabilitierte. In diesem Jahr standen sie erstmals im Zentrum des offiziellen Gedenkens an die NS-Verfolgten. Aus Sicht von Amnesty Deutschland ein später und überfälliger Schritt.

Diskriminierung setzt sich fort

Noch immer erleben LGBTI-Personen Diskriminierung, Hass und Gewalt. Die Behörden registrierten im vergangenen Jahr 870 Straftaten gegen Menschen wegen ihrer "sexuellen Orientierung" und 370 Straftaten wegen ihrer Geschlechtsidentität. Das ist ein Anstieg um rund die Hälfte bzw. zwei Drittel gegenüber dem Vorjahr.

"Wenn wir heute Paul Hamme gedenken, dann in dem Bewusstsein, dass der Einsatz für Sichtbarkeit und Anerkennung von Menschen – egal, wie sie sich fühlen oder wen sie lieben, weitergeht – in Deutschland, Europa und überall auf dem Globus", sagte Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty Deutschland, als Mitte Februar 2023 vor Hammes letztem frei gewählten Wohnort in Berlin ein Stolperstein verlegt wurde.

Der Autor ist Sprecher der Themengruppe Queeramnesty.

Informationen zum Projekt Stolpersteine.

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