“Gay is not enough”, meint John Waters, Regisseur berühmt-berüchtigter Trash-Klassiker wie Pink Flamingos, zu Beginn von Schau mir in die Augen, Kleiner (Deutschland/Frankreich/Niederlande 2007, André Schäfer), einem Rückblick auf die schwullesbische Kinogeschichte. Schwule Filmschaffende und schwule Themen machen nicht automatisch einen guten Film – ablesen lässt sich dies an den 42 Berlinale-Filme, die sich dieses Jahr – mehr oder minder deutlich – LGBT-Themen widmeten.
So etwa André Schäfers Versuch, das „Coming-out des Kinos“ Revue passieren zu lassen: Der filmhistorische Abriss fängt in erster Linie O-Töne lesbischer und schwuler RegisseurInnen ein, die leider nicht immer so witzig und pointiert ausfallen wie im Falle Waters. Dieses wenig originelle Stilmittel ist fernsehadäquat – auf die Panorama-Premiere folgte kurz darauf die Arte-Ausstrahlung. Großes Kino sieht freilich anders aus. Schäfers Dokumentarfilm weist auch inhaltlich wenig Neues auf und eignet sich bestenfalls als kurzweilige Einführung in die Weiten des Queer Cinemas. Dass dieses hier primär aus erstens westlichen und zweitens Filmen von Männern besteht, mag der gesellschaftlichen Realität geschuldet sein; allerdings läuft Schau mir in die Augen, Kleiner auch Gefahr, diese Einseitigkeit abermals fortzuschreiben. Etwas mehr Selbstreflektion und -kritik hätten dem ganzen gut getan. Dies gilt auch in Anbetracht problematischer Film-Stereotype, die sich vor allem im US-amerikanischen „Schwulen-Mainstream“ herausgebildet haben. “No one wants to see ageing queens”, meint einer der befragten Filmschaffenden in Schäfers Film. In Folge dominieren muskulöse, „männliche“, wohlhabende Beaus den schwulen DVD-Markt.
Zunächst einmal ist die mediale Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen freilich begrüßens- und erstrebenswert. Dies veranschaulicht ein Blick auf Gesellschaften, in denen LGBT tabuisiert und diskriminiert werden, wie etwa Russland, wo sich einzelne Abgeordnete des Unterhauses der Regierung im Augenblick um eine Rekriminalisierung von Homosexualität bemühen. Der Dokumentarfilm MOCKBa.Pride (Moscow Gay Pride Festival, Russland 2007, Vladimir Ivanov) in der Sektion Panorama befasst sich noch einmal mit den homophoben Ausschreitungen beim letztjährigen CSD. Wir haben noch die Bilder vom attackierten Grünen-Politiker Volker Beck im Gedächtnis und sehen erstmal nur langwierige Meetings und Abstimmungen im Konferenzsaal eines abgeschirmten Hotels. Die Kooperation und Selbstpräsentation verschiedener LGBT-Gruppen wird auf diese Weise realistisch eingefangen – für Menschen, die sich nicht unmittelbar auf diesem Gebiet engagieren, erscheinen die Prozeduren allerdings schlicht langweilig. Wie Detlef Kuhlbrodt in der taz vermerkte, läuft die Doku hier auch Gefahr, Vorurteile reaktionärer Kräfte zu bedienen, Homosexualität sei ein Import des Westens. Die langen Einstellungen zeigen in erster Linie debattierende Delegierte aus dem Westen; über die Lebenssituation von LGBT in Russland erfährt der Zuschauer wenig bis nichts. Erst gegen Ende verlässt der Film die Hotelmauern und legt Zeugnis von den Gewaltausschreitungen ab, mit denen sich die friedlichen Demonstranten in Moskau konfrontiert sahen. Für die Arbeit von MERSI ist der Film thematisch interessant; ein größeres Publikum wird er aufgrund seiner eklatanten dramaturgischen und technischen Mängel allerdings nicht erreichen. Der Ansatz, dass die OrganisatorInnen selbst die Kamera in die Hand nehmen, klingt sympathisch; allerdings hätte den FilmemacherInnen eine dramaturgische Beratung gut getan.
Dass Dokumentarfilme ambitionierter und filmisch spannend sein können, zeigt der experimentelle Forums-Beitrag Kurz davor ist es passiert (Österreich 2006) von Anja Salomonowitz. Er behandelt kein LGBT-spezifisches, aber gewiss ein ai-relevantes Sujet: den globalen Frauenhandel. Den voyeuristischen Berichten sensationslüsterner TV-Magazine werden bewusst alternative Bilder entgegensetzt: Ein Zöllner, ein Bordellkellner, eine Nachbarin, ein Taxifahrer und eine Diplomatin tragen Schilderungen vor, die aus Interviews betroffener Frauen verdichtet wurden. Salomonowitz gelingt es durch ihre ProtagonistInnen, verschiedene Ausprägungen und Etappen des Frauenhandels darzustellen. Dass Frauen zur Prostitution gezwungen werden oder sich in sklavenähnlichen Anstellungsverhältnissen befinden, ist schließlich nicht nur der Arbeit von „Schleppern“ geschuldet, die von den Mainstream-Medien gern an den Pranger gestellt werden. Auch andere Faktoren wie der prekäre Aufenthaltstatus illegalisierter Migrantinnen sind in diesem Zusammenhang wichtig. “Gay is not enough” lässt sich auch in dem Sinne begreifen, dass es sich mitunter lohnt, die queeren Gefilde zu verlassen und den Blick auf solche Themen und Filme zu richten.
Am diesjährigen Berlinale-Programm fällt erfreulicherweise auf, dass „queer“ – anders als in weiten Teilen des filmhistorischen Rückblicks Schau mir in die Augen, Kleiner – nicht automatisch „schwul“ bedeutet. 2007 sind viele Filme mit lesbischen Figuren vertreten. Eine der schönsten lesbischen Liebesgeschichten, Tuli (Tuli – The Circumciser, Philippen 2006, Auraeus Solito), kommt aus den Philippinen und trägt ein zentrales Motiv bereits im Titel: „Tuli“ bezeichnet die zeremonielle Beschneidung. Gleich zu Beginn sehen wir das Beschneidungsritual, dem kleine Jungen in dem philippinischen Dorf unterzogen werden, und bekommen die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen pointiert und witzig vorgeführt. Wie der Bach, in dem der Eingriff zur „Manneswerdung“ vollzogen wird, plätschert Solitos Film gemütlich vor sich hin und fängt die sozialen Gefüge im Dorfalltag ein. Die Kehrtwende zum lesbischen Drama überrascht dann umso mehr. Die Heldin Daisy revoltiert gegen die Pläne des Vaters, sie mit einem Dorfjungen zu verheiraten und entschließt sich stattdessen, mit ihrer Freundin zusammen zu sein. Die Entscheidung gegen die arrangierte Ehe und für die lesbische Liebe kommt nicht als Bollywood-ähnliches Melodram daher, sondern gleicht eher einem politischen Statement: „Wir zeigen den Männern, dass sich unsere Gedanken nicht nur um ihre Eier drehen.“ Es ist bemerkenswert, wie selbstbewusst und scheinbar selbstverständlich Daisy und ihre Freundin ihre Recht in dem katholisch geprägten Dorf einfordern: Sie gehen ein eheähnliches Verhältnis ein und suchen sich einen Samenspender für das eigene Kind aus. Lesbische Sexszenen und die humoristische Verwendung katholischer Embleme bereiteten Tuli Probleme bei der Zensur in Philippinen, „einem nach wie vor chauvinistischen Land“, wie der Regisseur Auraeus Solito meint.
Ähnlich kritisch äußert sich der koreanische Filmemacher Lee Hae-young über seine Heimat und führt den geringen Erfolg seines Werks Cheonhajangsa Madonna (Like A Virgin, Südkorea 2006) auf entsprechende Ressentiments zurück. Die Coming-of-Age-Komödie in der Berlinale-Sektion „Generationen“ ist die erste Mainstream-Produktion mit LGBT-Inhalt aus der boomenden Kinonation Korea und handelt vom Madonna-vernarrten Schuljungen Oh Dong-gu (Ryu Deok-hwan), der sich eine Geschlechtsumwandlung wünscht. Um dem Traum näher zu bekommen, will er das Preisgeld beim Ssireum-Wettbewerb, dem traditionellen koreanischen Wrestling, gewinnen. Lee Hae-young lässt seinen Outlaw-Helden auf eine Außenseiter-Sportart treffen und spielt gekonnt mit Klischees. Lobenswert ist auch, dass die Sehnsucht nach einer anderen Geschlechtsidentität nicht als pathologisches Problem daherkommt, und die Transgender-Figur nicht in der bekannten Opfer-Rolle verharrt. Entsprechend positive Repräsentationen von Menschen, die sich weder in die Schubladen hetero oder schwul pressen lassen, sind dem Queer Cinema der Zukunft zu wünschen. Auch in diesem Sinne lässt sich John Waters Satz begreifen: “Gay is not enough.”
von Florian Krauß
erstellt am: 01.03.2007