Amnesty International fordert den Rat für Allgemeine Angelegenheiten (GAC) der Europäischen Union auf, die Verletzungen der LGBTI-Rechte in Ungarn bei der nächsten Anhörung nach Artikel 7 Absatz 1 EUV (Vertrag über die Europäische Union)1 zu adressieren. Diese Anhörung sollte dringend stattfinden, da sich die Lage in Ungarn weiter verschlechtert.
Am 10. November kündigte die ungarische Regierung ein Paket von Gesetzesänderungen an, von denen einige die Rechte von LGBTI-Personen weiter einschränken würden.
Die Änderung des Omnibus-Gesetzes sieht vor, dass nur verheiratete Paare Kinder adoptieren dürfen, während Alleinstehende mit Sondergenehmigung des Familienministers adoptieren können. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Ungarn nicht legalisiert, und gleichgeschlechtliche Partnerschaften erhalten keine Adoptionsrechte, was verhindert, dass LGBTI-Personen Kinder adoptieren können.
Die Regierung hat im Rahmen der Gesetzesänderungen auch zwei Verfassungsänderungen vorgeschlagen. Die Erste schränkt die geschlechtliche Identität der Kinder auf das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht ein und gewährleistet eine Erziehung die "die Werte widerspiegelt, die auf der verfassungsmäßigen Identität und der christlichen Kultur Ungarns beruhen." 2 Dieser Antrag folgt auf die Verabschiedung eines Gesetzes im Mai 3, das die legale geschlechtsspezifische Anerkennung von Trans- und Intergeschlechtlichen verbietet. 4 Der Verweis auf die "christliche Kultur" steht im Widerspruch zu den Rechten auf Glaubens- und Gewissensfreiheit welche im Grundgesetz verankert sind 5 und dem Recht auf Bildung 6 und kann potentiell genutzt werden, um die Menschenrechte aller, einschließlich Nicht-Christen, zu untergraben.
Die zweite vorgeschlagene Verfassungsänderung zielt darauf ab, die restriktive Auslegung von der Familie und der Ehe zu institutionalisieren, indem sie feststellt, dass die familiären Bindungen auf der Ehe beruhen müssen, wobei "die Mutter eine Frau und der Vater ein Mann ist“.7
Neue Gesetzesvorlage diskriminiert LGBTI-Personen
Die vorgeschlagenen Änderungen verletzen die Menschenwürde, das Recht auf Privat- und Familienleben und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung. Die Verfassungsänderung, die vorschlägt, "Ungarn schützt das Recht der Kinder auf eine Identität, die dem Geschlecht bei der Geburt entspricht" 8 stärkt das Verbot des legalen Geschlechts weiter, da dies bedeuten würde, dass das Geschlecht nur von medizinischen Fachkräften auf der Grundlage biologischer Marker und Chromosomen anerkannt wird.
Die vorgeschlagenen Bestimmungen widersprechen auch den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Ungarns. Nach internationalem Recht ist Ungarn verpflichtet, die Würde jedes Einzelnen zu respektieren ohne zu diskriminieren oder das Recht auf Privat- und Familienleben einzuschränken.9 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte, dass die Geschlechtsidentität, der Name und die sexuelle Orientierung sowie das Sexualleben wichtige Elemente des persönlichen Bereichs sind, der durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist. 10 In einer Resolution im Jahr 2015, forderte die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Mitgliedsstaaten, darunter auch Ungarn, auf
"Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität explizit in der nationalen Nichtdiskriminierungsgesetzgebung zu verbieten und internationale Menschenrechtsstandards umzusetzen, einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in diesem Bereich, ohne Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität.“ 11 In einer neueren Resolution forderte die Versammlung die Mitgliedsstaaten, darunter Ungarn, auf, "davon abzusehen, die Änderungen ihrer Verfassungen, die die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder anderer Formen von Regenbogenfamilien verhindern würden, umzusetzen". 12
Die vorgeschlagenen Änderungen verstoßen gegen Ungarns Verpflichtung nach innerstaatlichem Recht.13 Die Verfassung legt fest, dass "jeder Mensch das Recht auf Leben und Menschenwürde hat...", und verankert das Recht jedes Einzelnen "sein oder ihr Privat- und Familienleben zu haben". 14
Das Übereinkommen des Europarates zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt - die Konvention von Istanbul - hat das Recht eines jeden anerkannt, frei von Gewalt zu leben, unabhängig von der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder anderer Merkmale. Das ungarische Parlament lehnte es im Mai dieses Jahres ab, das Übereinkommen zu ratifizieren.15
Zeitpunkt der vorgeschlagenen Gesetzgebung
Die vorgeschlagenen Änderungen wurden am 10. November offiziell von der Regierung vorgelegt, nur Stunden nach der parlamentarischen Ratifizierung des zweiten Ausnahmezustands 16, der eine Verschärfung der COVID-19-Einschränkungen vorschreibt. Laut Háttér Társaság, eine der führenden ungarischen LGBTI-NGOs, ist der Zeitpunkt nicht zufällig 17; die Behörden waren sich bewusst, dass die Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit die eingeführt wurden, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, die Menschen wirksam daran hindern würden ihre Ansichten durch öffentliche Versammlungen und Proteste zum Ausdruck zu bringen. Die Regierung schlug den ersten Satz von restriktiven Änderungen in ähnlicher Weise während des Ausnahmezustands Anfang März 2020 vor.
Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen wurden am 17. und 18. November im ungarischen Parlament diskutiert, anhängig bis zur endgültigen Verabschiedung Mitte Dezember. Die Vertreter der Oppositionsparteien lehnten die Vorschläge ab, und formulierten, dass diese Änderungen Ungarn "ins Mittelalter zurückversetzen"18 würden, während Katalin Novák, die Familienministerin, sagte, die "Regierung mache das Leben homosexueller Paare nicht unmöglich". 19
In den letzten Jahren hat sich die Anti-LGBTI-Rhetorik der Regierung verstärkt. Ministerpräsident Viktor Orbán gab im Mai 2016 20 ein Interview wo er erklärte, gleichgeschlechtliche Paare könnten "das tun, was sie wollen, aber sie können nicht erreichen, dass ihre Ehen vom Staat anerkannt werden. Ein Apfel kann nicht darum bitten, als Birne anerkannt zu werden".21 Im Jahr 2019 verglich der Präsident der ungarischen Nationalversammlung, László Kövér, gleichgeschlechtliche Paare, die adoptieren oder heiraten wollen, mit Pädophilen 22. "Moralisch gibt es keinen Unterschied", sagte Kövér, ein Gründungsmitglied der Fidesz-Partei und ein enger Verbündeter von Orbán. Später im Jahr 2019 riefen hohe Parteifunktionäre sogar zu einem Boykott von Coca-Cola auf, als das Unternehmen eine LGBTI-inklusive Werbekampagne startete. 23 Diese Erklärungen waren gefolgt von dem Verbot einer gesetzlichen Geschlechteranerkennung im Mai 2020, die einen direkten Angriff auf das Leben, das körperliche und psychische Wohlbefinden von LGBTI-Personen darstellen und schwerwiegend ihr Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung verletzt. Durch das Gesetzt werden sie weiter der Diskriminierung in allen Lebensbereichen ausgesetzt und es wird versäumt, ihre Menschenwürde zu schützen 24. Wenn die neuen Änderungsvorschläge angenommen werden, werden die Rechte von LGBTI-Personen weiter beschnitten, die bereits mit Diskriminierungen in verschiedenen Lebensbereichen konfrontiert sind.
Am 12. November stellte die Europäische Kommission die allererste EU-Strategie für die Gleichstellung von LGBTI vor, verkündet von Präsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Nation im Jahr 2020.25 Eine der Schlüsselaktionen der in der Strategie umrissenen Punkte umfassen den Schutz der Rechte von Regenbogenfamilien und die Festlegung gezielter Aktionen, einschließlich rechtlicher und finanzieller Maßnahmen, für die nächsten 5 Jahre.26 Die Fonds werden von der Einhaltung des EU-Antidiskriminierungsrechts abhängig gemacht.27 Vera Jourova, die Vizepräsidentin der EU-Kommission, hatte am 12. November gesagt, dass Missbrauch gegen LGBTI-Personen "zum autoritären Handbuch gehöre und keinen Platz in der EU hat"28.
Die ungarische Justizministerin Judit Varga wies die EU-Strategie zurück und nannte sie eine "scheinbar grenzenlose Ideologie, die den Mitgliedsstaaten aufgezwungen wird" und sagte, das Land würde "keine finanziellen Drohungen gegen den Schutz der traditionellen Rolle von Familie und Ehe akzeptieren".29
Am 20. November drängte auch die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović Ungarns Parlament zur Vertagung der Abstimmung über die Gesetzentwürfe mit der Begründung, dass diese, falls sie angenommen würden, weitreichende negative Auswirkungen auf die Menschenrechte im Land haben.30 Ihre Erklärung zitierte den Bericht der Venedig-Kommission von diesem Sommer 31, dass solch weitreichende Gesetzesvorschläge, insbesondere konstitutionelle Änderungen, nicht während des Ausnahmezustands eingeführt werden sollten.32
Dunja Mijatović befürchtet, "dass mehrere Vorschläge, die in dem komplexen Gesetzespaket enthalten sind, das ohne vorherige Konsultation eingereicht wurde und Bezug auf Angelegenheiten wie die Funktionsweise der Justiz, das Wahlgesetz, nationale Menschenrechtsstrukturen, die Kontrolle über öffentliche Gelder und die Menschenrechte von lesbischen und schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen (LGBTI) Menschen nimmt, dazu dienen könnte, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Ungarn zu untergraben. "33
1eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/
2www.parlament.hu/irom41/13647/13647.pdf, telex.hu/english/2020/11/10/hungary-constitutionalamendment-gender-family-public-funds-special-legal-order
3www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
4 According to the latest news, The Court of Appeal of Miskolc submitted a complaint to the Constitutional Court asking to determine the ban on legal gender recognition is contrary to the Constitution (https://hatter.hu/hirek/miskolci-torvenyszekalaptorveny-ellenes-a-transz-emberek-nemenek-jogi-elismereset-tilto)
5 Magyarország Alaptörvénye, VI. cikk/Fundamental Law, Article VI (https://www.parlament.hu/irom39/02627/02627.pdf)
6 Protocol 1, Article 2, ECHR (https://www.echr.coe.int/documents/guide_art_2_protocol_1_eng.pdf)
7www.parlament.hu/irom41/13647/13647.pdf, telex.hu/english/2020/11/10/hungary-constitutionalamendment-gender-family-public-funds-special-legal-order
8www.parlament.hu/irom41/13647/13647.pdf, telex.hu/english/2020/11/10/hungary-constitutionalamendment-gender-family-public-funds-special-legal-order
9 Article 17 of the International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) and Article 8 of the European Convention on Human Rights(ECHR), Amnesty International Public Statement, 03/04/2020, EUR 27/2085/2020
10 Guide on Article 8 of the European Convention on Human Rights, Right to respect for private and family life, home and correspondence, Updated on 31 August 2019, pp. 31., para 128., available at: www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_8_ENG.pdf.
11 Council of Europe Parliamentary Assembly Resolution 2048 (2015)1 on Discrimination against transgender people in Europe, Paras 6.1.1. and 6.1.2., at: bit.ly/coe-pace-resolution2048.
12assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp
13 Hungary must guarantee fundamental rights to every person “without discrimination and in particular without discrimination on the grounds of race, colour, sex, disability, language, ...birth or any other status.” Article XIV in Fundamental Law (https://www.parlament.hu/irom39/02627/02627.pdf),https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR2720852020ENGLISH.PDF
14 Article II and Article V in Fundamental Law, (https://www.parlament.hu/irom39/02627/02627.pdf)
15www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
16 In Hungary it is called state of danger
1824.hu/belfold/2020/11/18/orokbefogadas-egyedulallok-parlament-vita/
20 to Portuguese weekly Expresso
21www.nbcnews.com/feature/nbc-out/pandemic-rages-hungary-ramps-anti-lgbtq-legislation-n1248659
22www.theguardian.com/world/2019/oct/25/anti-lgbt-rhetoric-stokes-tensions-in-eastern-europe
23www.nbcnews.com/feature/nbc-out/coca-cola-ads-promoting-gay-tolerance-stir-furor-hungary-n1039251
24www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
25ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_2068
26ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_2068
27 htps://www.independent.co.uk/news/world/europe/hungary-to-restrict-adoption-to-lgbt-people-in-line-with-other-populistcountries-b1724896.html
28 htps://www.independent.co.uk/news/world/europe/hungary-to-restrict-adoption-to-lgbt-people-in-line-with-other-populistcountries-b1724896.html
29 htps://www.independent.co.uk/news/world/europe/hungary-to-restrict-adoption-to-lgbt-people-in-line-with-other-populistcountries-b1724896.html
30www.coe.int/en/web/commissioner/-/commissioner-urges-hungary-s-parliament-to-postpone-the-vote-on-draftbills-that-if-adopted-will-have-far-reaching-adverse-effects-on-human-rights-in31
www.venice.coe.int/webforms/documents/
32www.coe.int/en/web/commissioner/-/commissioner-urges-hungary-s-parliament-to-postpone-the-vote-on-draftbills-that-if-adopted-will-have-far-reaching-adverse-effects-on-human-rights-in33
www.coe.int/en/web/commissioner/-/commissioner-urges-hungary-s-parliament-to-postpone-the-vote-on-draft-bills-that-if-adopted-will-have-far-reaching-adverse-effects-on-human-rights-in-