Nach dem Überfall zerstörtes Büro der Organisation Nash Svit © privat
Nach dem Überfall zerstörtes Büro der Organisation Nash Svit © privat

Meldungen | Ukraine Ukraine: Besonders in Gefahr

Andriy Maymulakhin engagiert sich seit 26 Jahren für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+) in der Ukraine. Der Aktivist fürchtet seit Kriegsbeginn vermehrt um die Sicherheit der Community.

Von Luciana Ferrando

An diesem Tag im April gab es bislang noch keine Explosionen, erzählt Andriy Maymulakhin bei einem Videogespräch. Deswegen gehe es ihm "okay". Die letzten Detonationen hörte der Aktivist, der sich für die Rechte von LGBTI+ einsetzt, zwei Tage zuvor. Das Haus, in dem er nun wohnt, vibrierte. Maymulakhin hat nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine die Hauptstadt Kiew verlassen und in einem kleinen Dorf Zuflucht gesucht.

Die Explosionen seien Teil seines neuen Alltags, ebenso wie Wege mit Bäumen zu blockieren, Insulin für einen Nachbarn zu besorgen oder den Garten zu bestellen, erzählt der 53-Jährige.

Vor dem Krieg sah sein Tagesablauf anders aus. In dem Kiewer Büro der Organisation Nash Mir (Russisch für "Unsere Welt") arbeitete Maymulakhin mit einem siebenköpfigen Team sowie Unterstützer_innen daran, dass die LGBTI+-Community "in der ukrainischen Gesellschaft mehr akzeptiert und integriert" wird. Maymulakhin und seine Mitstreiter_innen führen ihre NGO wegen der russischen Aggression nun unter dem ukrainischen Namen Nash Svit weiter.

Übergriffe von Bewaffneten

Drei Tage nach Kriegsbeginn wurde das Büro von Nash Svit von bewaffneten Männern geplündert, die Mitarbeiter_innen festgehalten und gedemütigt. "Wir haben solche Übergriffe noch nicht erlebt", sagt Maymulakhin. "Das wäre nicht passiert, wenn das Land nicht von russischen Kräften okkupiert wäre." Er glaubt, dass LGBTI+ jetzt besonders in Gefahr sind. Das Team von Nash Svit vermutet, dass die Angreifer Ukrainer waren. Homophobie ist in dem Land stark verbreitet.

Seit 1996 engagiert sich Maymulakhin für die Rechte von homo- und bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. 1998 gründete er die heutige NGO Nash Svit, die mit Unterstützung von Amnesty International als eine der ersten LGBTI+-Organisationen in der Ukraine anerkannt wurde.

Nash Svit bietet Beratung und juristische Unterstützung an und dokumentiert Hassverbrechen, Diskriminierungen und andere Menschenrechtsverletzungen. Die NGO streitet für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, organisiert Demonstrationen und Pride-Aktionen und veröffentlicht jährliche Berichte zur Lage von LGBTI+ im Land. Finanziert wird die Arbeit durch Mittel der Europäischen Union, aus den USA und Kanada sowie durch private Spenden.

Schritte Richtung Freiheit

Noch 2016 lehnten 60 Prozent der Ukrainer_innen einer Befragung zufolge Lesben, Schwule, Bisexuelle oder trans Personen ab. Dennoch gilt die Ukraine als eines der Länder im postsowjetischen Raum, das – vor allem im Vergleich zu Russland und Belarus – Fortschritte im Umgang mit LGBTI+ zeigt. Seit der Maidan-Revolution 2014 habe sich die Lage "deutlich verbessert", sagt Maymulakhin. Am jüngsten Pride-March in Kiew im September 2021 nahmen 7.000 Menschen teil. "Die jüngeren LGBTI haben kein Identitätsproblem. Sie wissen, wer sie sind und stehen dazu", sagt Maymulakhin. "Das ist ein großer Schritt Richtung Freiheit."

"Ich wünsche mir, dass wir erleben dürfen, wie die Ukraine sich in eine gute Richtung entwickelt, wenn der Krieg vorbei ist. Für LGBTI und für alle anderen."

Andriy Maymulakhin

Das sei bei ihm anders gewesen. Noch als Jugendlicher dachte er, er sei der einzige Schwule in seiner Heimatstadt Luhansk. Auch wenn Homosexualität in der Ukraine seit 1991 nicht mehr strafbar ist, blieben Homosexuelle noch lange unsichtbar. "Als ich das erste Mal etwas zu dem Thema las, war Gorbatschow Präsident." Da erst habe er begriffen, was mit ihm los war. "Zuerst musste ich mich selbst verstehen und akzeptieren." Seinen Eltern schrieb er damals, dass er schwul sei. Die Unterstützung seiner Familie erhielt er erst Jahre später.

Bei einem Aufenthalt im Ausland kam Maymulakhin das erste Mal mit LGBTI+-Aktivist_innen in Kontakt. Später schrieb er: "Ich wusste, dass ich in diesem Leben würde kämpfen müssen – für meine Nonkonformität, für meine persönlichen und politischen Freiheiten."

Bis zum Beginn des Krieges lebte Maymulakhin mit seinem langjährigen Partner zusammen. Das Paar hat 2014 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) eine Klage eingereicht. Der ukrainische Staat diskriminiere sie, indem er ihnen die Ehe verweigere. Das Urteil steht noch aus.

Seit Februar dieses Jahres geht es nun ums Überleben. Maymulakhin telefoniert jeden Tag mit seinem Partner, der an die Front geschickt wurde. "Ich wünsche mir, dass wir erleben dürfen, wie die Ukraine sich in eine gute Richtung entwickelt, wenn der Krieg vorbei ist", sagt er. "Für LGBTI und für alle anderen."

Luciana Ferrando ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Sie können die Arbeit von Nash Svit hier mit einer Spende unterstützen.

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