Victoria Biran, bei der Festnahme in Belarus 2020 © Victoria Safchits
Victoria Biran, bei der Festnahme in Belarus 2020 © Victoria Safchits

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Die belarussische Aktivistin Victoria Biran spricht über die Dauerproteste gegen Präsident Lukaschenko, ihre Haft, Repressionshumor und was das Land jetzt braucht.

Die Proteste gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 gehen weiter. Bei zahlreichen Demonstrationen nahmen die Sicherheitskräfte inzwischen mehr als 30.000 Menschen fest, unter ihnen auch Victoria Biran. Die Aktivistin, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) einsetzt, war am 26. September 2020 auf dem Weg zu einer Frauendemonstration, als Sicherheitskräfte sie festnahmen. Zwei Tage später wurde sie zu zwei Wochen Haft verurteilt, die am 11. Oktober 2020 endete. Lilian Tietjen und Matthias Göbel von der Belarus-und-Ukraine-Kogruppe von Amnesty International Deutschland sprachen mit ihr.

Interview: Lilian Tietjen und Matthias Göbel

Wie kam es zu Ihrer Festnahme?

Meine Demonstrationsteilnahme an diesem Tag war kurz – sie dauerte höchstens eine Minute. Die Menge war in Bewegung, und ich verlor meine Gruppe aus den Augen. Ich verteilte Kronen an die Demonstrantinnen, ein humorvolles Zeichen gegen Alexander Lukaschenkos heimliche Amtseinführung, als drei Männer in olivfarbener Uniform auf mich zukamen und sagten: "Kommen Sie mit!"

Sie sind LGBTI-Aktivistin. Spielte das eine Rolle?

Die Regenbogenflagge, die ich bei mir trug, war wahrscheinlich ein Zeichen. Im Auto fragten sie mich: "Was bedeutet das? Ist Dir klar, dass wir Homo-Ehen niemals akzeptieren werden?" Seit mehr als 15 Jahren stellen sie die gleichen absurden Fragen. Ich habe keine Beweise, dass sie gezielt fahnden. Aber auf der Polizeistation gaben sie mir eine Liste mit Namen meiner Freunde, die bei der Demonstration Regenbogenflaggen und Poster hielten, und fragten: "Wo sind sie?" Ich sagte nichts und war froh, dass sie mich in Ruhe ließen.

Haben Sie damit gerechnet, im Gefängnis zu landen?

Natürlich. Vor und nach mir wurden Tausende inhaftiert. In Belarus fühlen sich Menschen inzwischen schlecht, wenn sie nicht im Gefängnis waren, eine Art "Protesttrauma". Es gibt diesen Witz: "Du bist kein Belarusse, wenn du nicht im Gefängnis warst!"

Sie wurden zu 15 Tagen Verwaltungshaft verurteilt. Hatten Sie einen Rechtsbeistand?

Dank meiner Freunde und meines Netzwerkes bekam ich ein Paket mit wichtigen Dingen, die gerade Frauen im Gefängnis oft fehlen. So konnte ich Binden und Unterwäsche auch an andere weitergeben. Ich bekam sogar für fünf Minuten eine Anwältin. Dafür war ich sehr dankbar, wenige bekommen diese Unterstützung.

Wussten Sie, dass Amnesty International eine Eilaktion für Sie gestartet hat?

Ich habe das nach meiner Entlassung erfahren. Aber ich fühlte mich schlecht, weil Tausende unter härteren Umständen im Gefängnis sitzen. Es geht nicht um mich, aber es ist wichtig, diese Vorkommnisse öffentlich zu machen und die Regierung wissen zu lassen, dass sie unter Beobachtung steht und ihre böse Agenda nicht einfach heimlich durchsetzen kann.

Sie wurden in die Haftanstalt Akrestina gebracht, die bekannt ist für Folter und sexuellen Missbrauch. Wie war es da?

Es ist ein dreckiger, überfüllter Ort. Manchmal dachte ich, sie wollen, dass wir alle an Covid-19 erkranken. Es stank stark nach Kot, der auch überall in den Toilettenlöchern lag. Wir hatten nie frische Luft und mitunter tagelang keine Möglichkeit, zu duschen. Auch Trinkwasser gab es nicht immer. In die Zellen fiel fast kein Tageslicht, aber nachts wurde das Licht angelassen. Politische Gefangene und andere Straftäter waren gemeinsam inhaftiert. Manchmal wurden die Matratzen entfernt und einige mussten auf dem Boden schlafen. Ich wurde nicht geschlagen, aber Männer oder männlich aussehende Menschen schon. Ich weiß nicht, ob all diese Dinge unter Folter fallen, aber ich würde sagen, dass es das war.

Was heißt es, eine "gewaltlose politische Gefangene" zu sein?

Es hat mir sehr geholfen, das Ganze von Anfang als eine Art Spiel zu betrachten, zu wissen, dass ich unschuldig bin und dass meine Freunde diese Erfahrungen auch schon gemacht und überlebt haben. Ich habe von Anfang an versucht, mich von dem, was mir da geschieht, zu distanzieren. Sonst wäre es unmöglich gewesen, das Ganze in seiner Absurdität zu verstehen.

Ihr online veröffentlichtes Gefängnistagebuch trägt den Titel "From Okrestina to Berghain" (Von Akrestina zum Berghain)? Welche Rolle spielt der Berliner Nachtclub?

Zum einen ähnelte unsere Art zu protestieren einem Techno-Rave. Wir tanzten und spielten Techno-Musik, es war eine Mischung aus Protest und Feier. Und dann gibt es noch das Berghain-Prinzip, wie ich es nenne. Als wir im Gefängnis saßen, versuchten wir stets, die Handlungen des Wachpersonals zu ergründen. Bestrafen sie uns? Und wenn ja, warum? Schnell verstanden wir, dass es um reine Machtdemonstrationen geht. Das erinnerte mich an die Türsteher im Berghain: Es ist häufig reine Willkür, wer reinkommt und wer nicht.

Wird die LGBTI-Community als Teil der Proteste wahrgenommen, und was kann die Community zu den Protesten beitragen?

Die Community ist ein sehr sichtbarer Teil der Proteste. Letztlich kämpften und kämpfen wir alle, die LGBTI-Community, Anarchist_innen, Christ_innen, Arbeiter_innen, IT-Spezialist_innen, Studierende, Menschen verschiedener Klassen und unterschiedlicher Hintergründe, für ein besseres Leben.

Die Proteste haben ein sehr emanzipiertes, weibliches Gesicht. Wie kam es dazu?

Ich weiß es nicht, aber ich begrüße es sehr. Allerdings ist dieses Gesicht auch sehr heterogen. Einige Frauen haben sich sowohl im Zuge der Proteste als auch im Gefängnis sehr zurückhaltend und brav verhalten, während andere emanzipierter und feministischer auftraten. Es sollte auch so sein, dass jede ihre eigene Strategie verfolgt.

Was kann man in Deutschland tun, um die Menschen in Belarus zu unterstützen?

Es ist wichtig, die Gesellschaft aufzuklären. Wer fotografiert, kann Aufklärung zum Thema machen. Verlage können bei der Auswahl der Bücher, die sie übersetzen und publizieren, auf Aufklärung achten. Ebenso juristische Aktivist_innen. Es ist wichtig, allen bewusst zu machen, dass die Ereignisse in Belarus nicht abstrakt sind, sondern reale Menschen betreffen. Man kann sich auch an die politisch Verantwortlichen in Deutschland wenden und sie nach konkreten Handlungen fragen.

Was ist Ihr Traum für Ihre Zukunft und die Ihres Landes?

Ich hoffe, ich kann meine Arbeit als LGBTI-Aktivistin fortsetzen. Ich möchte junge Aktivist_innen an meinen Erfahrungen teilhaben lassen, damit wir Belarus gemeinsam zu einem besseren Ort machen, zu einem Land, in dem die Menschen gerne leben und ihre Träume realisieren können. Ich möchte in Deutschland studieren, Brücken bauen zwischen Deutschland und Belarus und zeigen, dass wir viel gemeinsam haben. Davon träume ich seit Jahren.

Victoria Biran wurde 1990 in Pinsk, Belarus geboren. Sie engagiert sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) und ist Mitgründerin der Website Makeout, die sich mit LGBTI-Themen befasst. Biran hält sich derzeit in Berlin auf und plant, in Deutschland zu studieren.

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