Vertreter des Klerus in der armenisch-orthodoxen Kirche
Vertreter des Klerus in der armenisch-orthodoxen Kirche. – Foto: Rupert Haag

Meldungen | Armenien Im Visier der Orthodoxen

Lilit Martirosyan ist wegen ihres Einsatzes für die Rechte von armenischen Schwulen, Lesben und Transgeschlechtlichen Morddrohungen ausgesetzt.

Von Eva Marie Stegmann, Jerewan

Die armenische Transfrau Lilit Martirosyan lebt in ständiger Gefahr.Nachdem sie sich im Frühjahr in einer Rede im Parlamentder armenischen Hauptstadt Jerewan für die Rechte von Schwulen,Lesben, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen(LGBTI) eingesetzt hatte, drohten ihr Hunderte mit dem Tod."Sie ist eine Schande für das Land", "Wir sollten sie verbrennen", heißt es in zwei Kommentaren unter einem YouTube-Video, das ihre Rede festhält."Ich wusste, dass es gefährlich werden kann", rekapituliert Martirosyan im Büro ihrer NGO Right Side ihren Auftritt im Parlament:"Es war historisch." Die internationale LGBTI-Szene feierte Martirosyan dafür, dass sie ihre Menschenrechte vor den Politiker_innen einforderte und die Zahl der 283 Übergriffe auf LGBTI,die Right Side allein im Jahr 2018 gezählt hat, in ihrer Rede öffentlich machte. Doch die Vorsitzende der Anhörung im Parlament verwies Martirosyan des Saales.

Lilit Martirosyan verhält sich nicht so, wie man es von einer Frau erwarten würde, die sich über Monate nicht auf der Straße zeigen konnte und jeden Tag von einem Freund im Auto mit verdunkelten Scheiben zur Arbeit gefahren wird. Sie geht beschwingt mit geradem Rücken und angehobenem Kinn, sie lacht oft und offen. Auf Martirosyans rechtem Arm sind die Worte "All equal all different" tätowiert. Der Ort, an dem sich das Büro von Right Side in Jerewan befindet, ist geheim. Es gibt kein Schild mit dem Namen der Organisation - dafür eine Metalltür mit Zahlencode und vielen Überwachungskameras.

Martirosyan gründete Right Side nach einem Überfall vor zehn Jahren. Wie viele Transgeschlechtliche, die es schwer haben, Jobs zu finden, arbeitete Martirosyan damals noch als Prostituierte in einem Park in der armenischen Hauptstadt. Eines Abends sprangen Männer mit Baseballschlägern und Eisenstangen aus einem Auto und gingen auf sie los, erzählt Martirosyan. Der Fahrer hielt mit dem Auto direkt auf sie zu. Martirosyan entkam, verletzt und unter Schock. Seitdem hat sie es sich mit Right Side zur Aufgabe gemacht, Verbrechen an Transmännern und -frauen zu dokumentieren, sie steht im Dialog mit Regierungsvertreter_innen, Behörden und der Polizei. Die Mitarbeiter_innen unterstützen bei Geschlechtsangleichungen und führen Kampagnen gegen HIV.

Angehörige der LGBTI-Community werden in Armenien zutiefst benachteiligt. Wie stark, zeigt ein Ranking der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (Ilga)aus dem Jahr 2018. Unter den 49 untersuchten europäischen Ländern werden LGBTI demnach nur noch in Aserbaidschan stärker benachteiligt. Viele flüchten aus Armenien in europäische Staaten oder nach Russland. Gewaltverbrechen sind an der Tagesordnung, bis hin zum Mord. Häufig ist es sinnlos, die Vorfälle bei der Polizei zu melden. Martirosyan sagt: "Die Polizei ist homophob. Genau wie Ärzte oder Mitarbeiter anderer Behörden."

Vorurteile werden in den Familien geschürt, in den Medien, in der Schule - Transgeschlechtliche in Armenien werden in allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert, nicht zuletzt deshalb, weil die Gesellschaft so stark von der armenisch-orthodoxen Kirche beeinflusst ist wie in kaum einem anderen Land: 94 Prozent der Armenier_innen gehören der armenisch-apostolischen Kirche an, die ein patriarchales Familienbild predigt. Die Proteste gegen Martirosyan infolge ihrer Rede wurden von orthodoxen Würdenträgern wie dem Priester Ghazar Petrosyan angeführt, der in armenische TV-Kameras sagte: "Ich weiß, was mit ihr zu tun ist, es steht in der Bibel: Todesstrafe", brennen solle sie.

Die Hassreden wurden landesweit ausgestrahlt. Dabei hätte sich in diesem Jahr etwas ändern können. 2018 war es in dem Land zur sogenannten "Samtenen Revolution" gekommen. Zehntausende Menschen protestierten wochenlang friedlich gegen die korrupte Politik des damaligen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjans. Darunter auch Martirosyan und viele andere LGBTI. Wortführer der Proteste war der Journalist Nikol Pashinjan. Er forderte Gleichheit, soziale Sicherheit und vor allem: das Ende der Korruption. Bis dato saßen in der Regierung Oligarchen. Am Ende der Bewegung, die als "Samtene Revolution" in die armenische Geschichte einging, standen Neuwahlen. Sargsjans trat infolge der Proteste zurück. Pashinjan stellte sich zur Wahl und wurde im Mai 2018 Armeniens neuer Ministerpräsident. Auf den Straßenmärkten gibt es heute T-Shirts mit seinem Konterfei und dem Spruch "Yes, he can" zu kaufen. Der ehemalige Chefredakteur der Oppositionszeitung Aikakan Schamanak steht für eine liberale Wirtschaftspolitik; zahlreiche Oligarchen verließen deswegen das Land. Andere verbanden mit ihm die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel - so auch viele LGBTI.

Zunächst geschah nach Martirosyans Rede nichts, Pashinjan äußerte sich trotz Protestnoten der EU und diverser Diplomaten nicht. Bis Ende Mai 2019. In einer Pressekonferenz sagte er, bezugnehmend auf die Forderung, Lilit solle brennen: "Ich werde beschuldigt, dass ich eine armenische Bürgerin nicht verbrenne. Wir werden niemanden verbrennen! Wir werden die Rechte jedes einzelnen Bürgers von Armenien verteidigen. Denn sie alle sind gleich vor dem Gesetz. Und Diskriminierung ist verboten, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Sozialstatus oder Alter." Es schien sich etwas zu bewegen - Stück für Stück. Im August schließlich schlug Pashinjans Regierung vor, öffentliche Aufrufe zu Gewalt und Propaganda zu kriminalisieren - vier Monate nach Martirosyans Rede im Parlament.

"Wie ich fühle, dass es vorangeht", schrieb Martirosyan kurz darauf auf Facebook. Sie verfolgte die Debatte von Europa aus. Aufgrund ihrer Todesangst war sie nach Prag gereist, um sich auszuruhen. Doch sie kam zurück: "Armenien, ich habe dich vermisst", schrieb sie, als sie wieder armenischen Boden betreten hatte.