Marsch für Gleichberechtigung und Toleranz in Tallinn 2004. Keine Plakate wurde getragen aber die estnische Fahne.

Meldungen | Europa | Lettland | Estland | Litauen Die Baltischen Länder – Zwischen Europa und Nationalismus

Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind bis heute von ihrer Besatzungsgeschichte durch Polen, den Deutschen Orden, Schweden, Russland und Deutschland, die sich vom 10. bis in das 20. Jahrhundert hinzog, geprägt.

Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind bis heute von ihrer Besatzungsgeschichte durch Polen, den Deutschen Orden, Schweden, Russland und Deutschland, die sich vom 10. bis in das 20. Jahrhundert hinzog, geprägt.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund hat sich die nationale Identität in einer Weise ausgebildet, welche das Fremde in problematischer Weise als Bedrohung versteht und viele Leute mit einer Phobie auf alles, was „anders“ ist, hinterließ. Auch nachdem 1990/91 die Unabhängigkeit errungen wurde, erscheint momentan die Vergangenheit oftmals prägender als die Gegenwart und die Demokratie ist (aus westlicher Sicht) als eine noch „zu übende“ Praxis zu verstehen.

Die rapiden Veränderungen nach Ende der Ost-West-Konfrontation haben in allen mittel- und osteuropäischen Gesellschaften die Ängste vor Armut und mangelnder sozialer Sicherheit ebenso wie vor dem Verlust des gesellschaftlichen Status, der Identität und des Selbstwertgefühls verstärkt. Diese gesellschaftlichen und sozioökonomischen Instabilitäten führen zu einer deutlichen Tendenz in vielen Köpfen, die „altbewährten“, aber zumeist autoritären, religiösen, patriarchalischen und nationalistischen bis faschistischen Traditionen aufflammen zu lassen.

Erst kürzlich hat die Parlamentarier-Versammlung des Europarats eindringlich vor einem Wiederaufleben der Nazi-Ideologie gewarnt. Die „duldsame Haltung“ einiger Regierungen wurde angeprangert. Als Beispiel wurde eine jährliche Kundgebung früherer lettischer Mitglieder der Waffen-SS in der lettischen Hauptstadt Riga genannt. Dies ist kein Sonderfall: Als ich vor zwei Jahren in Tallinn war, gab es einen Marsch von Ex-SS-Hilfssoldaten, die eine Sonderrente für sich forderten.

Der gesellschaftliche und historische Hintergrund sowie die politische Entwicklung der letzten Jahre schlagen sich auch in der Haltung und dem Umgang gegenüber Menschen nieder, die aufgrund ihrer Homosexualität dem normativ vorgegebenen Lebensmuster widersprechen.

Estland

Nach wie vor ist Homosexualität in Estland gesellschaftlich nicht akzeptiert. Erst kürzlich wurde die LGBT-Gemeinschaft durch die aufhetzende Stellungnahme von dem Leiter des estnischen Conservatives Clubs Martin Helme angegriffen. Dieser betonte, dass „die Homosexuellen einen Angriff gegen die normale Familie und gemeinsamen Werte vorhaben“ und forderte, dass die BürgerInnen „das nicht akzeptieren, was nicht akzeptiert werden sollte“. Er verlangte, das „Analsex zwischen Männern, sowie öffentliches Zeigen von Homosexualität, Händehalten, Küssen etc. als kriminelle Handlung bestraft werden müsse.“

Obwohl die Bedingungen nach wie vor schwierig sind, gibt es immer wieder Initiativen von Seiten schwuler und lesbischer AktivistInnen sich zusammenzuschließen. So gibt es z.B. eine Gruppe in der zweitgrößten und Universitätsstadt Tartu sowie zwei Projekte, Zeitschriften zu veröffentlichen, die bisher jedoch noch nicht umgesetzt werden konnten.

Der erste anerkannte schwule Verein in Estland wurde 1992 angemeldet. 1999 wurde die Schwule Union gegründet, die insbesondere im Gesundheitsbereich aktiv ist. Eine estnische Lesbische Union wurde 1990 gegründet. Diese gibt es inzwischen nicht mehr, aber einen anderen Zusammenschluss – MeaCulpa – für junge Lesben, der zunächst als Webseite ins Leben gerufen wurde. MeaCulpa ist seit August 2003 als Organisation registriert und konnte im Herbst 2005 über 300 Mitglieder verzeichnen.

Im Sommer 2004 wurde das „Gay and Lesbian Information Centre“ (GLIK) mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland eröffnet – das Geld ist aber nur bis 2007 sicher. Nachdem die Mitgliederzahlen sanken, beschränkt sich die Arbeit des GLIK hauptsächlich auf HIV/AIDS-Aufklärung.

2004 marschierten um die 600 Menschen im Rahmen der ersten Gay Pride Parade durch Tallinn – ohne Plakate aus Angst, jemanden zu provozieren. Etwa 400 Menschen sind im August 2005 trotz starkem Regen zur zweiten schwullesbischen Parade erschienen.

Lettland

Obwohl schwuler Geschlechtsverkehr 1993 entkriminalisiert wurde, ist die homophobe Atmosphäre in Lettland noch stark vorherrschend. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie haben über 70% der befragten Homosexuellen Angst, als solche geoutet zu werden. Es gibt unter dem Namen Mozaika bisher einen einzigen Zusammenschluss von Homosexuellen in Lettland.

Im Dezember 2005 hat das Parlament die Definition von Ehe als eine Institution zwischen Mann und Frau in die Verfassung geschrieben. Die Lettland-Zuerst Partei (auch als die Priester Partei bekannt) ist christlich-evangelisch und ausdrücklich homophob. Durch den Innenminister und weitere Parteiobere kam es vermehrt zu verbalen Angriffen gegenüber Homosexuellen, insbesondere was die Idee betraf, eine Gay Pride Parade durchzuführen.

Im Juli 2005 fand dennoch die erste Parade in der Hauptstadt Riga statt. Etwa 100 mutige Menschen marschierten teilweise mit Regenbogenfahnen und Plakaten wie „Lesbische und schwule Rechte sind Menschenrechte“, „Wir sind auch Familie“ und „Wir sind Christen!“ durch die Innenstadt.

Eine große Anzahl von Gegnern störte die Parade und schrie Sprüche wie „Scham-Parade“. Die Homophoben schmissen mit Eiern und Tomaten, benutzten Tränen-Gas, zerstörten Plakate und versuchten, die Teilnehmenden körperlich anzugreifen. Nach einem Gottesdienst mussten die TeilnehmerInnen der Parade unter Polizeischutz in Bussen abgefahren werden.

In einer Aussage im Fernsehen hat der Premierminister von Lettland, Aigars Kalvitis, gesagt, dass es inakzeptabel gewesen sei, dass eine Parade von sexuellen Minderheiten mitten in der Stadt neben der Kathedrale stattfand. Amnesty international befürchtet, dass Kommentare von Behörden ein Klima von Intoleranz und Hass fördern und dass sie zu verbalen und physischen Angriffen gegen Schwule und Lesben aufhetzen könnten. Zudem erinnerte amnesty die lettische Regierung an die Verpflichtungen, die sie unter internationalen Menschenrechtsregelungen eingegangen sind.

Die geschilderten Ereignisse zeigen in aller Deutlichkeit, wie tief verwurzelt Homophobie auch heute noch in Lettland ist.

Litauen

Homosexualität war in der UdSSR strafbar und in der Mentalität vieler Litauer hat sich an dieser Tatsache nichts geändert. Das „Problem“ treibt manche Leute auf die Straße, bevor es entstanden ist. Etwa 50 Leute versammelten sich im September 2005 auf dem Europaplatz von Vilnius, um gegen die Verbreitung von Homosexualität in Litauen zu protestieren. Alle christlichen Kirchen unterstützten die Demonstration. Unter den Demonstranten waren katholische Priester ebenso wie bekannte National-Radikale. Sie forderten eine „moralische Gesellschaft“ und bezeichneten Homosexualität als die Hauptbedrohung für „die Familie“. Ein Protestierender behauptete: „DIE werden bald einen Marsch in Vilnius organisieren, und wir wollen im voraus sicher gehen, dass ihnen das nicht möglich ist.“

Allerdings hatte Eduards Platovas von der Litauischen Gay Liga bereits im Juli gesagt, dass sie wegen Geldmangel und angesichts der Homophobie in Litauen nicht vor hätten, einen Pride-Marsch zu veranstalten.

Alle drei baltischen Staaten, wie fast alle mittel- und osteuropäischen Länder, die neue Mitgliedstaaten oder Beitrittskandidaten der EU sind, haben in Bezug auf Menschenrechte sexueller Minderheiten keine ruhmreiche Geschichte. Trotz der Kopenhagener Kriterien ist der Prozess der gesellschaftlichen Veränderung hinsichtlich Toleranz und juristischer Anerkennung von sexuellen Minderheiten noch ein langer Weg.

Derlei Zustände verhindern sowohl die Entwicklung einer toleranten Zivilgesellschaft als auch die Entwicklung von starken Nichtregierungsorganisationen, die sich gegen eine übermächtige und oft korrupte Regierung zur Wehr setzen und für die Menschenrechte kämpfen könnten. Die Gruppen von AktivistInnen sind meist verhältnismäßig klein und stoßen zudem oft auf Unverständnis bei Lesben und Schwulen, die nicht „kämpfen“ wollen – nicht zuletzt aus Angst, dass dadurch auch ihre Sexualität öffentlich bekannt werden könnte. Der Kampf für Gleichberechtigung wird sehr viel Zeit und Kraft kosten.

Colin de la Motte-Sherman

Neue rechtliche Entwicklungen

Lettland: Am 15. Juni 2006 verabschiedete das lettische Parlament u.a. mit dem Stimmen der Latvia First Partei und der „Vaterland und Freiheit Partei“ eine Änderung im Gesetz, die Diskriminierung aufgrund verschiedener Tatbestände verbietet. Aber trotz Empfehlung der Regierung ist sexuelle Identität als Diskriminierungsgrund weiterhin nicht mit eingeschlossen.

Estland: Estland erkennt hingegen die Realität der Welt trotz Nationalismus und Homophobie. Ein Tag vor der Entscheidung in Lettland hat das estnische Parlament Änderungen zum Antidiskriminierungsartikel 151 des Estnischen Strafgesetzbuches verabschiedet. In seiner veränderten Form legt der Artikel die Strafe für die Aufhetzung zu Hass, für Gewalttätigkeit oder Diskriminierung fest. Unter die strafbaren Diskriminierungsgründe fallen nun u.a. Nationalität, Farbe, Geschlecht und auch sexuelle Orientierung. Für die Diskriminierung von Homosexuellen kann die Strafe je nach Schwere der Tat eine Geldbuße oder eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr sein.

Marsch für Gleichberechtigung und Toleranz in Tallinn 2004. Keine Plakate wurde getragen aber die estnische Fahne.

erstellt am: 12.07.2006