Foto: Yoshiko Kusano

Veranstaltungshinweis

Menschenrechtsverletzungen von intergeschlechtlichen Menschen als Thema einer szenischen Lesung

Von medizinisch nicht notwendigen, schädlichen Eingriffen bis hin zu alltäglichen Ausgrenzungen – intergeschlechtliche Menschen berichten in einer szenischen Lesung in Hildesheim, Braunschweig, Hannover und Oldenburg von Menschenrechtsverletzungen, Lebenslust und Anders-Sein.

Erst seit Mai 2021 gibt es in Deutschland eine gesetzliche Regelung, welche die Möglichkeit zur Einwilligung von Eltern für Operationen an intergeschlechtlichen Kindern einschränkt – wenn keine medizinische Notwendigkeit vorliegt. Das Gesetz ist einerseits ein Meilenstein für den Schutz intergeschlechtlicher Kinder. Ungewiss ist, ob es ausreicht, um die bisher gängige medizinische Praxis vollständig zu beenden, die eine vermeintliche „Normalisierung“ von Kindern versuchte, die mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale geboren werden. Der Druck bleibt groß, sich der herrschenden Norm der Zweigeschlechtlichkeit anzupassen. Im alltäglichen Leben sind intergeschlechtliche Menschen weiterhin mit Unwissen, Ignoranz und Diskriminierung konfrontiert. Dem begegnet die Frl. Wunder AG mit der szenische Lesung „INTER - Leben zwischen den Geschlechtern“. Im Zeitraum vom 13.10 – 13.11. finden fünf Vorstellungen in Hildesheim, Braunschweig, Hannover und Oldenburg statt. Die Performer*innen berichten über ihre Erfahrungen mit Ärzt*innen, Geschlechtszuweisung und Hormonen. Sie erzählen über Identitätskrisen, Lebenslust und Anders-Sein, sie reden Klartext mit denen, die nie zuhören wollten und inszenieren Kindheitserinnerungen und ihre Hoffnungen für eine Zukunft.

Wie geht unsere Gesellschaft mit Menschen um, die nicht ins Raster passen?

Die bisher gängige medizinische Praxis bedeutete für viele intergeschlechtliche Menschen eine Tortur: Hoden wurden entfernt, eine vergrößerte Klitoris chirurgisch reduziert. Teils wurden Vagina oder Penis modelliert. Meist erfolgten mehrere Operationen über einen Zeitraum von Jahren. Sie verursachen Schmerzen, Narben und Nervenschäden und konnten zum Verlust der Sensibilität der Geschlechtsorgane führen. Die Entfernung von Keimdrüsen führt zu Unfruchtbarkeit und macht eine lebenslange künstliche Hormongabe notwendig. Aber vor allem sind die geschlechtszuweisenden Eingriffe unumkehrbar und verursachen gravierende, lebenslange körperliche und psychische Leiden. Aus Sicht von Amnesty International handelt es sich bei Eingriffen ohne Zustimmung um Menschenrechtsverletzungen.

Die Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen brauchen Gehör, um mehr Wissen und Akzeptanz zu schaffen, sowie den alltäglichen Diskriminierungen entgegen zu treten.

Mehr Informationen zum Thema Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

In der digitalen Ausstellung „Jede*r hat ein Geschlecht: das eigene.“ [Link: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/deutschland-jeder-hat-ein-geschlecht-das-eigene] schildern Anjo, Charlie, D., Eves, Lucie und Steffi ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Sicht auf Intergeschlechtlichkeit und formulieren ihre dringenden Forderungen nach politischen wie gesellschaftlichen Veränderungen. Ihre Perspektiven brauchen Gehör, um mehr Wissen und Akzeptanz zu schaffen. Bis allen klar wird: Jede*r hat ein Geschlecht: das eigene.

Körper von Menschen mit Varianten der Geschlechtsmerkmale werden oft als unnatürlich oder krankhaft betrachtet, da sie dem tief verankerten Glauben, es gäbe nur zwei Geschlechter, gegenüberstehen. Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Personen sind eng mit der Pathologisierung ihrer Körper und den fest verwurzelten binären Geschlechterstereotypen verknüpft. Neben dem Recht auf Selbstbestimmung werden insbesondere die Rechte auf Privatleben, auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Es bedarf daher weiterer Maßnahmen, um einen umfassenden Schutz der Rechte von Menschen sicherzustellen, deren Körper sich nicht den vorherrschenden Definitionen von männlich und weiblich zuordnen lassen.

Unsere Forderungen konkret:

Die Bundesregierung stellt sicher: Krankenhäuser stellen neben den operativen Eingriffen auch invasive und irreversible Hormonbehandlungen an Säuglingen und Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale ein, sofern es sich nicht um Notfallmaßnahmen handelt. Dies geschieht bis diese in der Lage sind, aussagekräftig an der Entscheidungsfindung mitzuwirken und ihre informierte Einwilligung zu geben. Entschieden wird das nach dem Prinzip der sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen.

Die Bundesregierung stellt sicher, dass die Beratungsangebote eine tatsächlich informierte Einwilligung für Menschen mit Varianten der Geschlechtsmerkmale ermöglichen. Das heißt, die Beratungsstellen müssen schriftlich und mündlich vollständig über die vorgeschlagene Behandlung, deren Begründetheit und Alternativen informieren. Damit kommt Deutschland der Empfehlung des UN-Ausschuss gegen Folter anlässlich seines Staatenberichts nach. Zudem werden sowohl die Beratung und als auch der Diagnoseprozess zu Variationen der Geschlechtsmerkmale von den Krankenkassen bezahlt.

Das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit wird auch für Menschen mit Varianten der Geschlechtsmerkmale gewährleistet. Dafür wird garantiert, dass alle medizinischen Fachkräfte die Leitlinien vom Juli 2016 zur Behandlung von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale umsetzen (S2k-Leitlinie 174/001 Varianten der Geschlechtsentwicklung). Ferner werden Richtlinien für die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geschaffen und implementiert, die auf den Menschenrechten basieren. So wird deren körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Selbstbestimmung gewährleistet.

Das Fachpersonal im Medizin- und Gesundheitsbereich wird zu Geschlecht und körperlicher Vielfalt geschult. Damit kommt Deutschland der Forderung des UN-Ausschusses gegen Folter anlässlich seines Staatenberichts zu Deutschland nach. Diese Schulungen haben einen spezifischen Fokus auf Variationen der Geschlechtsmerkmale und erhalten Geschlechterstereotype nicht aufrecht. So soll Diskriminierungen im Behandlungsprozess vorgebeugt werden.

Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale und deren Familien bekommen Zugang zu psychologischer Langzeitunterstützung. Dies gilt auch für Personen, die operiert wurden. Die psychologische Unterstützung für Erwachsene und Kinder mit Variationen der Geschlechtsmerkmale sowie ihrer Eltern werden von den Krankenkassen bezahlt.

Erwachsene, die einer schädlichen und unnötigen medizinischen Behandlung unterzogen wurden, erhalten Zugang zu Schadenersatz oder einer anderen Form staatlicher Entschädigung. Damit kommt die Bundesregierung der Forderung von Selbstorganisationen von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale und dem UN-Ausschuss gegen Folter nach.

Um ihrer Verpflichtungen zur Beendigung schädlicher, auf Geschlechterstereotypen basierender Praktiken nachzukommen, ergreift die Bundesregierung weitere Maßnahmen. Ziel dieser Schritte ist es, der Pathologisierung intergeschlechtlicher Körper entgegenzuwirken. Dazu gehört, dass Geschlechtsmerkmale ausdrücklich als verbotener Diskriminierungsgrund in die Antidiskriminierungsgesetzgebung aufgenommen werden. Außerdem wird die Gleichbehandlung von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale in Gesetzgebung und Praxis geschützt und gefördert.

Die Bundesregierung stellt sicher, dass Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale Zugang zu einem schnellen und transparenten Verfahren erhalten und so die Angleichung des Personenstandes und ihres Namens erwirkt werden kann. Dabei wird sichergestellt, dass das Verfahren allein auf der Grundlage der Selbstdeklaration der einzelnen Personen basiert. Auf ein ärztliches Attest oder andere Begutachtungsprozesse wird verzichtet.

Termine und Veranstaltungsorte der szenischen Lesung

Hildesheim:

Telemannsaal des Gymnasium Andreaneum
13.10.2022, 9.45 Uhr
14.10.2022, 8.00 Uhr

Braunschweig:

Haus der Kulturen
15.10.2022, 20 Uhr

Hannover

Andersraum
12.11.2022, 16 Uhr
12.11.2022, 20 Uhr

Oldenburg

Hempels
13.11.2022, 19 Uhr

Der Eintritt ist frei.

Trailer:

https://vimeo.com/510754555

Website der Frl. Wunder AG:

http://fraeuleinwunderag.net/de/

Von und mit:

Frl. Wunder AG. Anne Bonfert, Julia Gerasch, Vanja Kadow, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Sandrao Mendig, Jessika-Katharina Möller-Langmaack, Malte Pfeiffer, Carmen Grünwald-Waack

In Kooperation mit:

Intergeschlechtliche Menschen Landesverband Niedersachsen e.V., Intergeschlechtliche Menschen Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V.  Bundesverband Intergeschlechtliche Menschen e.V., Landeskoordination Inter* im Queeren Netzwerk Niedersachsen e.V.

Gefördert durch:

Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Queeramnesty, Beauftragte für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der  Landeshauptstadt Hannover